Qual(l)itätsforschung

Was haben Urlaub am Meer und naturwissenschaftliche Grundlagenforschung gemeinsam? Zumindest am MPI-NAT lautet die Antwort: Quallen. Hier erforschen unsere Wissenschaftler*innen die lebenden Eizellen der kleinen Salzwassertiere.

Winzig, durchsichtig, kaum von Luftbläschen zu unterscheiden: Die Quallen am MPI-NAT sind anders als die, denen man bei einem Tauchgang oder in einer Tierdokumentation begegnet. Die Exemplare der Spezies Clytia hemisphaerica sind auch ausgewachsen maximal einen Centimeter groß und wirbeln in der ständigen künstlichen Strömung, ohne die sie zu Boden sinken und sterben würden, in ihrer Plexiglasbox umher. „Wenn die Quallen schlüpfen, sind sie etwa Stecknadelkopf-groß. Dann wachsen sie noch zwei bis vier Wochen bis sie die Größe haben, die die Forschenden brauchen“, erklärt Tierpfleger Sascha Krause. Er betreut die Quallen in der Aquarienhaltung unseres Instituts; er füttert sie, reinigt ihre Salzwasserboxen und hält sie für die Arbeit der Wissenschaftler*innen gesund. In der Grundlagenforschung ist dieses Tiermodell zwar nicht neu, aber noch ungewöhnlich. 2020 kamen die Quallen auf den Faßberg – inspiriert von der Arbeit und mit der Unterstützung einer Forschungsgruppe am Labor für Entwicklungsbiologie in Nizza (Frankreich).  

Oogenese mit Durchblick

An unserem Institut nutzen die Forschungsgruppe Dynamik des Zellskeletts in Oozyten und die Facility für Lichtmikroskopie um Peter Lenart die Tiere, um lebende Eizellen zu untersuchen. „Die isolierten Eierstöcke der Quallen, die Ovarien, sind sehr gut geeignet für Lebenszellmikroskopie“, sagt Lenart und erläutert: „In Quallen passiert ein großer Teil der Oogenese – das heißt die Wachstumsphase und auch die Reifeteilung einer Eizelle – in 24 Stunden. Mit den Tieren können wir in lebenden Zellen verfolgen, wie die Oogenese vonstattengeht.“ Dafür bringen sie einige Vorteile mit, zum Beispiel, dass sie von Natur aus transparent sind: „Viele Eizellen oder Ovarien von Tieren sind nicht durchsichtig und dadurch schwierig zu mikroskopieren“, berichtet Jasmin Jakobi, technische Assistentin in Lenarts Team. „Es braucht viel Vorbereitungszeit und lange Protokolle, um sie mithilfe von Chemikalien durchsichtig zu machen.“ Quallen hingegen könne man ohne viel Vorarbeit lebend unter dem Mikroskop anschauen.

Quallen im Vorteil

Weitere Stärken der Quallen: Dank eines sehr schnellen Lebenszyklus und ihrer Anzucht im Labor, lassen sie sich auch genetisch auf die Forschung der Wissenschaftler*innen abstimmen. So können die Forschenden mit dem CRISPR/Cas9-Verfahren gezielt die sogenannte Gen-Schere ansetzen und DNA-Bausteine im Erbgut der Tiere verändern. Hinzu kommt, dass die Seesterne – Nachbarn der Quallen in der Tierhaltung und das Modell, mit dem Lenart und sein Team derzeit hauptsächlich arbeiten – einige Nachteile mit sich bringen. Da sich Seesterne beispielsweise nicht unter Laborbedingungen nachzüchten lassen, arbeitet unser Institut mit Wildfängen aus Kalifornien, sodass sich nicht nur die lange Anreise, sondern auch Klimawandel und Umweltverschmutzung auf die Gesundheit der Tiere auswirken. Auch Genmanipulation ist bei ihnen unmöglich. Plus: „In der Zell- und Entwicklungsbiologie fokussieren wir uns immer noch auf sehr wenige Modellsysteme. Diese Modellsysteme sind toll, weil man konservierte Mechanismen im Detail studieren kann“, sagt Lenart. „Aber Diversität ist genauso spannend. Und die verstehen wir weniger, weil wir uns so fokussieren.“ Quallen und auch Seesterne seien ungewöhnliche Modellsysteme – und das bereichere die Forschung: „Natur ist divers und wenn man mit etwas Neuem anfängt, sieht man manchmal plötzlich, dass es ein bisschen anders und spannend ist.“

Jasmin Jakobi fasziniert noch etwas anderes an den Quallen: „Wenn man die Ovarien entnimmt, überleben diese noch zwei oder drei Tage und produzieren weiter Eizellen.“ Sobald sich die Ovarien nicht mehr in einer Qualle befinden, bilden sie härchen-artige Zellfortsätze, sogenannte Zilien, mit denen sie sich durch das Wasser bewegen könnten. „Die unreifen Eizellen in den Ovarien werden sogar verdaut, um die reiferen Eizellen bis zum Ende durchreifen zu lassen und sie absondern zu können.“ Also beste Voraussetzungen für die Lebendzellmikroskopie.

Ein Modell mit Zukunft

Auch in Zukunft möchte Lenart seine Arbeit weiter mit Clytia hemisphaerica bereichern: „Wir haben große Hoffnung, was unsere Forschung mit den Quallen angeht. Für die nächsten Jahre stelle ich mir vor, dass wir Seestern- und Quallen-Modelle parallel nutzen. Wenn das gut funktioniert, würde ich gerne vollständig auf die Quallen umsteigen. Wir wollen uns weiterhin mit Oogenese beschäftigen und dafür ist das ein sehr gutes System.“ Auch Sascha Krause in der Tierhaltung kann sich das gut vorstellen, sieht aber auch die Herausforderungen, die die Quallenhaltung mit sich bringt: „In Zukunft soll es so aussehen, dass wir pro Woche 200 bis 300 Quallen produzieren. Wenn alles läuft, ist das machbar – mit dem Füttern und Reinigen der Boxen in dem Umfang aber auch eine Heidenarbeit.“ Zudem seien Quallen anspruchsvoller als Seesterne, was ihren Lebensraum angeht. „Die Quallen reagieren ziemlich empfindlich auf Schwankungen in den Wasserwerten, zum Beispiel auf die Temperatur oder auf den Salzgehalt. Das alles richtig einzustellen, ist schon eine Herausforderung.“

Diesen Einsatz weiß auch Lenart zu schätzen. „Ich bin sehr dankbar, dass die Tierhaltung hier so toll ist, sich so viel Mühe gibt und uns so unterstützt. Die Kolleg*innen sind wirklich großartig und sehr engagiert“, sagt der Forschungsgruppenleiter. „Es ist extrem mühsam und zeitaufwendig, ein solches System zu etablieren. Bis es wirklich läuft, kann es ein bis zwei Jahre dauern. In dieser Phase sind wir jetzt. Hoffentlich können wir Ende dieses Jahres wirklich sagen: ‚Ja, jetzt läuft alles stabil.‘“ (kf)

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