Von konservativ bis flexibel – Gehirnzellen passen sich bei Ernährungsumstellung oder Erkrankung unterschiedlich gut an

19. September 2022

Wenn wir unsere Ernährung ändern oder erkranken, muss sich unser Gehirn darauf einstellen. Flexibel adaptiert es seinen Energiestoffwechsel an die veränderten Bedingungen und sorgt so dafür, dass unser Denkorgan funktionsfähig bleibt. Forschende am Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften haben jetzt herausgefunden, dass sich die fünf wichtigsten Zelltypen im Gehirn deutlich in ihrer Fähigkeit unterscheiden, ihren Stoffwechsel auf veränderte Einflüsse einzustellen. Ihre Erkenntnisse aus Versuchen an Mäusen tragen dazu bei zu verstehen, warum eine fettreiche ketogene Diät bestimmte Erkrankungen des Gehirns wie beispielsweise Multiple Sklerose (MS) positiv beeinflussen kann.

Dass unser Gehirn derart leistungsfähig ist, verdankt es seinen verschiedenen zellulären Spezialisten, die zusammenarbeiten und miteinander kommunizieren. Rund 86 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn steuern unser Verhalten und unsere Gefühle, verarbeiten Sinneseindrücke, lassen uns eine Sportart ausüben oder ein Musikinstrument erlernen. Genauso wichtig für diese Gehirnleistungen sind die etwa ebenso vielen Milliarden Gliazellen, die unterschiedliche Zelltypen umfassen: Astrozyten versorgen Nervenzellen mit Nährstoffen und unterstützen sie dabei, Signale zu übertragen. Oligodendrozyten beschleunigen die Kommunikation, indem sie eine fettreiche Myelinschicht um den Fortsatz einer Nervenzelle wickeln und diesen isolieren. Mikroglia wiederum sind an der Immunabwehr beteiligt. Endothelzellen, die weder zu Nerven- noch zu Gliazellen gehören, bilden die Blutgefäße im Inneren unseres Gehirns. Sie versorgen das Organ mit Nährstoffen, um dessen konstant hohen Energiebedarf zu decken, und kontrollieren überdies, welche Stoffe ins Nervengewebe gelangen.

Dem Team um Gesine Saher gelang es, in diesen fünf Zelltypen deren Inventar an Proteinen – die Werkzeuge lebender Zellen – zu kartieren. Das Proteininventar einer Zelle – Proteom genannt – passt sich äußerst dynamisch Veränderungen in ihrer Umgebung an, zum Beispiel bei Mangel an Nährstoffen oder erhöhtem Stress. „Uns hat interessiert, wie sich Ernährung und Gesundheitszustand auf das Proteom von Zellen im Gehirn auswirken. Wir wollten herausfinden, ob sich in den unterschiedlichen Zelltypen Stoffwechsel-Muster erkennen lassen“, erklärt Saher, Projektgruppenleiterin in der Abteilung Neurogenetik. Dafür isolierte ihr Team alle fünf Zellarten aus der Hirnrinde von Mäusen, die von der üblichen kohlenhydrat-basierten auf eine kohlenhydratarme, fettreiche ketogene Diät umgestellt wurden. Weitere Zellproben entnahm das Team Nagern, die an einer Entzündung des Nervengewebes, einer sogenannten Neuroinflammation, litten.

Dies sei technisch anspruchsvoll gewesen, wie ihr Kollege Olaf Jahn, Leiter der Neuroproteomik Facility, betont. „Wir mussten mit sehr wenig zellulärem Ausgangsmaterial arbeiten und trotzdem in hoch standardisierter Weise das Proteininventar der verschiedenen Zellarten quantitativ erfassen. Dabei hat uns insbesondere unsere automatisierte Probenvorbereitung und ein spezielles Datenaufnahmeverfahren geholfen.“

Zellarten reagieren flexibel bis konservativ

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die einzelnen Zelltypen im Gehirn unterschiedliche Strategien haben, um die veränderte Verfügbarkeit der Energiesubstrate zu kompensieren. Astrozyten und Nervenzellen sind in ihrem Stoffwechsel flexibel und passen sich an“, so Saher. Tim Düking, Erstautor der jetzt im Fachmagazin Science Advances veröffentlichten Studie, ergänzt: „Dies zeigte sich in unseren Mäusen bei einer ketogenen Diät beispielsweise daran, dass die Dichte der Mitochondrien – die Kraftwerke lebender Zellen – erhöht war. Diese Zellorganellen verstoffwechseln die Ketonkörper, die entstehen, wenn der Körper verstärkt Fett abbaut.“ „Gleichzeitig ermöglichten Endothelzellen durch den verstärkten Import von Ketonkörpern ins Gehirn, dass seine Zellen überhaupt erst Zugang zu diesem veränderten Nährstoffangebot erhielten“, ergänzt Lena Spieth, ebenfalls Erstautorin der Studie. „Oligodendrozyten waren die Konservativsten unter den Zellarten. Sie behielten ihren Stoffwechsel bei.“

Die Ergebnisse der Forschenden liefern auch neue Erkenntnisse, warum sich eine ketogene Diät bei MS positiv auswirken kann. Neuroinflammatorische Erkrankungen wie diese bringen den Energiestoffwechsel des Gehirns aus dem Gleichgewicht; dies schädigt die Nervenzellen. Als Reaktion stellt sich der Nervenzell-Stoffwechsel auf Fett als primäre Energiequelle um. „Bei unseren Mäusen, die an einer Neuroinflammation litten, zeigte sich dies als deutliches Muster im Stoffwechsel ihrer Nervenzellen, ähnlich wie in gesunden Mäusen, denen eine ketogene Diät verabreicht wurde. Erhielten erkrankte Tiere eine ketogene Diät, verstärkte sich der Energiestoffwechsel in den Nervenzellen am deutlichsten. Der Schweregrad der MS-Erkrankung reduzierte sich. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die ketogene Diät das benötigte Fett als Energiesubstrat liefert“, erklärt Saher.

Weitere Studien müssen zeigen, inwieweit diese Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind. In Erkrankungen des Nervensystems wird der Stoffwechsel bereits als Ziel für Therapien diskutiert. Die zelltypspezifischen Proteomdatensätze des Göttinger Teams liefern hierfür eine wichtige Grundlage. (cr)

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