Das versteckte aktive Leben von Nervenzellkontaktstellen im Gehirn entschlüsselt

Superauflösende STED Mikroskopie ermöglicht die Beobachtung der Dynamik synaptischer Kontaktstellen im gesunden und kranken Gehirn unterhalb der Lichtauflösungsgrenze

9. Juni 2021

Nervenzellen bilden im Gehirn kleine Ausstülpungen, so genannte Dornfortsätze, an deren Ende sich meistens eine Kontaktstelle zu einer anderen Nervenzelle, eine so genannte Synapse befindet. Synapsen können sowohl kurzlebig sein als auch über sehr lange Zeiträume, manche sehr wahrscheinlich ein Leben lang, existieren. Kurzlebige Kontaktstellen sind Ausdruck eines sich ständig anpassenden Gehirns, ein Prozess der notwendig ist um neue Eindrücke und Erfahrungen ‚zu verarbeiten‘. Langlebige, stabile Kontaktstellen andererseits bilden die Grundlage unseres Gedächtnisses. Aber selbst stabile Gedächtnisinhalte können teilweise mit der Zeit variieren. Die Grundlage dieses Prozesses ist bisher wenig verstanden. Wissenschaftlern am Göttinger Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin unter Leitung von Katrin Willig ist es nun in Zusammenarbeit mit der Gruppe von Sabine Liebscher an der Ludwig-Maximilians Universität in München gelungen im Gehirn einer Maus mit Hilfe der STED Mikroskopie – eines Superauflösungsverfahrens – kleinste strukturelle Veränderung im Bereich von Nanometern der Dornfortsätze über einen Monat zu beobachten. Die im Fachmagazin Science Advances erschienene Arbeit zeigt, dass die Strukturen zwar über einen Zeitraum von mindestens einem Monat am selben Ort vorhanden sind, sich aber deren Untereinheiten in ihrer Größe und Form  stark verändern. Synaptische Strukturen sind somit einerseits stabil, aber gleichzeitig auch ‚volatil‘ – dynamisch – und somit anpassungsfähig.

Die Entwicklung neuer, superauflösender Lichtmikroskopieverfahren hat in Göttingen eine lange Tradition mit dem Höhepunkt in der Verleihung des Nobelpreises für Chemie an den Göttinger Physiker Stefan Hell für seine Erfindung der STED Mikroskopie. Die Arbeitsgruppe von Katrin Willig nutzte nun die STED Mikroskopie um zentrale Prozesse der Hirnfunktion zu untersuchen. Die kleinsten, funktionellen Einheiten im Gehirn sind Synapsen, die eingebettet in einem umgebenden Netzwerk von Millionen Nervenzellen und Stützzellen tief im Gewebe liegen und somit schwer mit herkömmlicher Lichtmikroskopie abgebildet werden können. Voll funktionsfähig und ‚lernbereit‘ sind Synapsen nur in einem intakten Organismus. Die Bildaufnahme mit Nanometer Auflösung wie durch die STED Mikroskopie ist allerdings in Organismen deutlich erschwert, da z.B. durch den Blutfluss in den Kapillaren ständig Bewegung auftritt. Den Forschern ist es nun gelungen die Technik soweit zu optimieren, dass Gehirnstrukturen nicht nur wie bisher über Stunden, sondern über Wochen und bis zu einem Monat im Gehirn einer Maus beobachtet werden können. Der Goldstandard der hochauflösenden Strukturuntersuchung im Gehirn ist zwar meistens noch die Elektronenmikroskopie, für deren Anwendung muss das Gehirn allerdings in dünne Scheiben geschnitten werden und ist somit nicht mit lebenden Organismen kompatibel. Die STED Mikroskopie ermöglicht nun die Analyse kleinster Bestandteile von Dornfortsätze, wie deren dünnem Hals und ihrem ausgestülpten Kopf. Die Größe und Weite dieser Komponenten der Dornfortsätze bestimmt die Stärke einer Synapse.

In Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern um Sabine Liebscher wurde erforscht, wie stark sich diese Strukturen über mehrere Wochen verändern. Gleichzeitig wurden die Dornfortsätze auch in einem Mausmodell der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, untersucht. Obwohl die Mäuse noch nicht sichtbar erkrankt waren, konnten die Forscher eine strukturelle Veränderung der Dornfortsätze feststellen, die als ein erstes Anzeichen der Krankheit gedeutet werden kann und somit einen ungeahnten Einblick in die Neuropathologie der ALS bieten.  

Die relative lange Beobachtungszeit von 4 Wochen und eine Auflösung von unter 100 Nanometern eröffnet der Hirnforschung ungeahnte, neue Möglichkeiten. In Zukunft sollen mit dieser Technik zum Beispiel auch Lernvorgänge untersucht werden um so eindeutig zu zeigen, welche dieser morphologischen Veränderung gezielt hervorgerufen werden können und zur Speicherung von Erlerntem bzw. zu dessen Verlust beitragen.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht