Wie sich die Kraftwerke der Zelle in Form biegen
Um zu überleben, benötigen alle Lebewesen Energie. In den Zellen unseres Körpers wird diese durch die Kraftwerke der Zelle – die Mitochondrien – bereitgestellt. Die zellulären Energielieferanten besitzen dafür einen einzigartigen strukturellen Aufbau: Sie bestehen aus einer glatten äußeren und einer stark eingefalteten inneren Membran. Was die innere Membran in Form bringt, blieb jedoch bisher ein Rätsel. Ein Wissenschaftlerteam um Stefan Jakobs an der Universitätsmedizin Göttingen und am Max-Planck-Institut (MPI) für biophysikalische Chemie in Göttingen hat nun mittels modernster Mikroskopie-Verfahren neue Einblicke gewonnen, wie die innere Membran gefaltet wird. Da viele Erkrankungen des Nervensystems und des Muskelapparats mit einer gestörten Mitochondrienarchitektur einhergehen, können die Ergebnisse der Forscher dazu beitragen, besser zu verstehen, wie derartige Krankheiten entstehen.
Die Einfaltungen der inneren mitochondrialen Membran, die sogenannten Cristae, beherbergen kleine molekulare Maschinen, die die Energie für unseren Körper bereitstellen. „Obwohl die einzigartige Struktur der Mitochondrien bereits seit Jahrzehnten bekannt ist, war bisher unklar, wie diese entsteht“, erklärt Stefan Jakobs, Leiter der Forschungsgruppe Struktur und Dynamik von Mitochondrien am MPI für biophysikalische Chemie. Der innere Aufbau eines Mitochondriums wird von einer Gruppe von Proteinen gesteuert, die als mitochondriales Kontaktstellen- und Cristae-Organisationssystem (MICOS) bezeichnet werden. Sie sind in der Membran verankert, können die innere mitochondriale Membran „biegen“ und damit deren Form beeinflussen. „Die einzelnen Komponenten des MICOS sind schon seit Längerem bekannt“, sagt Till Stephan, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe. „Wie sie aber genau zusammenspielen und die Cristae bilden, darüber gab es sehr widersprüchliche Theorien.“
Kombination von Fluoreszenzmikroskopie und 3D-Elektronenmikroskopie
Um zu untersuchen, wie die MICOS-Proteine ihre Aufgabe erfüllen, arbeiteten Wissenschaftler aus sechs Arbeitsgruppen von den Göttinger MPIs für biophysikalische Chemie und experimentelle Medizin, der Universitätsmedizin Göttingen und der Universität Bielefeld zusammen. Zunächst erzeugten sie mit der Genschere CRISPR/Cas9 genetisch veränderte Zellen, in denen sie die Bildung einzelner MICOS-Komponenten durch Zugabe einer chemischen Substanz aus- und wieder anschalten konnten. „Das Abschalten einiger Komponenten des MICOS führte dazu, dass die Mitochondrien die Cristae nicht mehr korrekt ausbilden konnten“, berichtet Jakobs. Danach schalteten die Forscher die Produktion der MICOS-Proteine wieder an und verfolgten mittels 3D-Elektronenmikroskopie und ultrahochauflösender Fluoreszenzlichtmikroskopie, wie die Bildung des MICOS-Komplexes aus seinen Einzelbestandteilen die Ausformung der Cristae steuert. „Eine einzelne Mikroskopie-Methode hätte uns bei der Beobachtung dieser Prozesse nicht weitergebracht“, so der Zellbiologe. „Mit Fluoreszenzmikroskopie können wir die Proteine mit Nanometerpräzision auf Millionstel Millimeter genau sichtbar machen. Doch um die Membran, in der sie sich befinden, sichtbar zu machen, brauchte es einen weiteren Ansatz.“
Christian Brüser, wissenschaftlicher Mitarbeiter, ergänzt: „Erst die Kombination der Daten aus der Fluoreszenzmikroskopie mit einer 3D-Rekonstruktion der mitochondrialen Membranen unter Einsatz der 3D-Elektronenmikroskopie hat gezeigt, wie die einzelnen Proteine zusammenarbeiten, um die Cristae zu formen.“
Aus den gesammelten Daten ergibt sich für das Forscherteam eine neue Vorstellung davon, wie Mitochondrien ihre Cristae ausbilden: MICOS besteht aus zwei Teilen, von denen einer die Einstülpungen der Innenmembran verankert. Rekrutiert diese Komponente dann die zweite Hälfte vom MICOS, wird ein molekularer Schalter umgelegt, der die Ausformung der Innenmembran startet. Größere Membranen werden während dieses Prozesses in kleinere Teilstücke zerlegt und bilden so die zahlreichen, hochgeordneten Cristae innerhalb eines Mitochondriums.
In der Zukunft möchten die Forscher in enger Zusammenarbeit mit Medizinern an der Universitätsmedizin Göttingen herausfinden, welche Rolle eine fehlerhafte Cristaentwicklung bei der Entstehung von Parkinson- und Alzheimer-Erkrankungen spielen. (Peter Ilgen/cr)