Manfred Eigen –
vielseitiger Forscher und visionärer Denker

Seine Vision, mit biologischen, physikalischen und chemischen Methoden komplexe Lebensvorgänge zu erforschen, hat die Philosophie und den Erfolg des Max-Planck-Instituts (MPI) für biophysikalische Chemie maßgeblich mitbestimmt. Sein Spirit – drängende Neugier, höchster wissenschaftlicher Anspruch, außerordentliche Freiheit und große Kollegialität – ist bis heute ungebrochen.

Manfred Eigen war Wissenschaftler aus Leidenschaft, erreichte Großartiges auf ganz unterschiedlichen Forschungsgebieten und erhielt dafür zahlreiche Preise, Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden. Allerdings gab es für ihn bis zum Alter von 18 Jahren eine ernstzunehmende Alternative: Der am 9. Mai 1927 in Bochum geborene spätere Chemie-Nobelpreisträger stand vor der Wahl, Wissenschaftler oder Pianist zu werden. Aus einem sehr musikalischen Elternhaus stammend, war seine Kindheit von Konzerten und Klavierspiel geprägt. Aber er hatte auch ein kleines Labor zu Hause, das er für Experimente ausgiebig nutzte: „Es war ein richtiges Labor, das meine Mutter überhaupt nicht schätzte, vor allem, wenn wieder etwas explodierte“, erinnerte sich Manfred Eigen. Im Zweiten Weltkrieg, in dem er bereits mit 15 Jahren Dienst als Luftwaffenhelfer leisten musste, hatte er keine Gelegenheit, Klavier zu spielen. So fehlten ihm wichtige Jahre der Übung, um sein Repertoire zu vervollkommnen und er entschied sich schließlich, die Musik zum Hobby und die Wissenschaft zum Beruf zu machen.

Nach der gelungenen Flucht aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft ging Eigen 1945 nach Göttingen, um sich dort in Physik und Chemie einzuschreiben. Die Göttinger Universität gehörte zu den ersten deutschen Hochschulen, die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder öffneten. Dort hatte der junge Student sofort Kontakt zu herausragenden Wissenschaftlern: Er hörte Physik bei Werner Heisenberg und Wolfgang Paul; ersterer war bereits Nobelpreisträger, letzterer sollte es noch werden.

Seine Diplomarbeit fertigte er bei Arnold Eucken an, der so beeindruckt war von den herausragenden Fähigkeiten seines Studenten, dass er ihn direkt als Doktoranden übernahm. Manfred Eigen wurde den in ihn gesetzten Erwartungen spielend gerecht: Mit nur 24 Jahren schloss er seine Promotion in physikalischer Chemie erfolgreich ab und war danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Physikalische Chemie der Universität Göttingen in der Bürgerstraße tätig.

Wie schnell ist eine unmessbar schnelle Reaktion?

Die Rate wahrer Neutralisationsreaktionen hat sich als unmessbar schnell erwiesen. „Dieses Zitat hatte ich in Arnold Euckens Lehrbuch der chemischen Physik gefunden, während ich mich auf meine Doktorprüfung vorbereitete. Als sein Schüler war dieses Lehrbuch für mich die ‚Bibel der physikalischen Chemie‘. Doch war ich damals in einem Alter, in dem man praktisch nichts akzeptierte, ohne es kritisch zu hinterfragen. Und so begann ich darüber nachzudenken, wie schnell eine unmessbar schnelle Reaktion wohl sein könnte“, erzählte Manfred Eigen. 1953 wechselte er als Assistent an das MPI für physikalische Chemie und wandte sich unter Karl Friedrich Bonhoeffer dem Studium extrem schneller chemischer Reaktionen zu.

Chemische Reaktionsgeschwindigkeiten waren zu der Zeit bis zu einer tausendstel Sekunde messbar. Überzeugt davon, dass in der Chemie nichts unmessbar sei und es allenfalls ungeeignete Methoden gäbe, begann Manfred Eigen erfolgreich die sogenannten Relaxations-Messmethoden zu entwickeln, die er 1954 bei der britischen Faraday Society vorstellte. Dabei wird ein sich im chemischen Gleichgewicht befindliches System gestört, beispielsweise durch Schallwellen, und dann die Zeit gemessen, die das System benötigt, um wieder in seinen ursprünglichen Gleichgewichtszustand zurückzukehren. Damit war es zum ersten Mal möglich, Reaktionsgeschwindigkeiten im Nanosekunden-Bereich zu messen – eine wissenschaftliche Sensation! Seine Methode klärte zentrale Fragen der Biochemie, beispielsweise wie Enzymaktivitäten gesteuert werden.

Im Jahr 1958 wurde der Physiko-Chemiker zum Wissenschaftlichen Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft berufen, vier Jahre später übernahm er die Leitung der Abteilung für Chemische Kinetik am MPI für physikalische Chemie, noch einmal zwei Jahre später ernannte ihn das Institut zum Direktor. Sein Göttinger Labor wurde ein Anziehungspunkt für Chemiker aus aller Welt, die ultraschnelle Reaktionen untersuchen wollten.

Ausgezeichnete Forschung – Nobelpreis für Chemie 1967

Nur ein knappes Jahrzehnt später wurde Manfred Eigens großer wissenschaftlicher Durchbruch mit der höchsten Auszeichnung in der Forschung geehrt. Am 10. Dezember 1967 erhielt er, gemeinsam mit Ronald George Wreyford Norrish und George Porter, in Stockholm den Nobelpreis aus den Händen des schwedischen Königs Gustav VI. Adolf.

Neben seiner intensiven Aktivität in der Wissenschaft fand Manfred Eigen auch noch die Zeit, sich weiterhin der Musik zu widmen. Nach Abschluss seines Studiums hatte er sich wieder verstärkt der Musik zugewandt und trat gelegentlich bei Konzerten auf. Später folgten Aufnahmen mit dem Kammerorchester Basel unter der Leitung von Paul Sacher und dem New Orchestra of Boston unter der Leitung von David Epstein. Gemeinsam mit anderen namhaften Wissenschaftlern, Künstlern und Philosophen, darunter Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, Pierre Boulez, Georg Picht und Theodor Adorno engagierte sich Manfred Eigen besonders dafür, im Rahmen der Max-Planck-Gesellschaft ein Institut für Musikforschung zu etablieren – eine Idee, die während der Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft 1964 geboren wurde. Trotz so prominenter Befürworter wurde das Projekt am Ende nicht realisiert.

Überzeugen ließ sich die Max-Planck-Gesellschaft aber von einer anderen Vision des Nobelpreisträgers. Auf seine Initiative hin wurde 1971 durch Zusammenlegen der beiden Göttinger MPI für physikalische Chemie und für Spektroskopie das MPI für biophysikalische Chemie gegründet, an dem Manfred Eigen seitdem bis zu seiner Emeritierung 1995 die Abteilung Biochemische Kinetik leitete. Von den anfänglich 297 Mitarbeitern ist das Institut heute auf rund 850 Beschäftigte angewachsen; mit seinen 12 Abteilungen und 22 Forschungsgruppen ist es eine der größten Einrichtungen der Max-Planck-Gesellschaft.

Brücke zwischen Physik und Biologie

Ab 1968 wandte sich Manfred Eigen mit gewohnter Intensität dem Problem der molekularen Selbstorganisation und der Entstehung des Lebens zu. Bei den Untersuchungen von Reaktionsmechanismen biochemischer Prozesse hatte ihn immer wieder die optimale Effizienz und Präzision des molekularen Zusammenwirkens in der Biologie fasziniert. Mit einer rein phänomenologischen Erklärung wie der optimalen Anpassung im Sinne Darwins konnte er sich jedoch nicht zufrieden geben. Er stellte Darwins Idee der Evolution mittels natürlicher Auslese auf eine solide physikalische Basis und wandte diese auf molekulare Systeme an. Ihm gelang es damit, eine Brücke zwischen Biologie und Physik zu schlagen. Die Begriffe Hyperzyklus, Quasispezies und Fehlerschwelle sind untrennbar mit seinem Namen verbunden.

Begründer der evolutiven Biotechnologie

Eigens Theorien zur Selbstorganisation komplexer Moleküle und seine Entwicklung von Evolutionsmaschinen, mit denen er diese Theorien in die Praxis umsetzte, begründeten einen neuen Zweig der Biotechnologie-Branche – die evolutive Biotechnologie. Mit den von ihm und seinen Mitarbeitern am Institut bis zur Produktionsreife entwickelten Evolutionsmaschinen werden heute erfolgreich grundlegende Mechanismen der Evolution im Zeitraffer im Labor untersucht, darunter auch die Tricks, die das AIDS-Virus und andere tückische Krankheitserreger nutzen, um das Immunsystem zu überlisten. Solche Evolutionsmaschinen können darüber hinaus mittels Einzelmoleküldetektion helfen, neue molekulare Wirkstoffe zu finden und für die Entwicklung von Medikamenten einzusetzen. Die evolutive Biotechnologie wird in den von Manfred Eigen mitgegründeten Firmen Evotec Biosystems (heute Evotech AG) und der DIREVO Biotech AG (heute Bayer Health Care) mit Erfolg angewandt.

Inspiration und uneigennützige Unterstützung

Aufgrund seiner zahlreichen Errungenschaften und vielfach beachteten Publikationen auf unterschiedlichen Fachgebieten galt Manfred Eigen als einer der vielseitigsten deutschen Forscher. Wir waren hungrig nach Wissenschaft – mit dieser Einstellung hat der musikalische Naturwissenschaftler bis heute das Leben zahlreicher Mitarbeiter und Forscherkollegen geprägt, die einstimmig von der Inspiration und uneigennützigen Unterstützung schwärmen, die er immer bereit war zu geben. Seine Vorträge spiegelten nicht nur sein breites Interessen- und Wissensspektrum wider, sondern auch seine uneingeschränkte Begeisterung für die Forschung, mit der er die Zuhörer mitzureißen und zu faszinieren verstand. Zur Tradition wurden das von ihm gemeinsam mit Fritz Cramer gegründete Molekularbiologische Colloquium in Göttingen und das von Eigen 1966 ins Leben gerufene Winterseminar. Anfänglich ein Abteilungstreffen im kleinen Kreis, wurde das Winterseminar in den folgenden Jahren immer größer: Renommierte Wissenschaftler aus der ganzen Welt, darunter bis heute mehr als 50 Nobelpreisträger, zählen zu den Teilnehmern der berühmten Tagungen in Klosters in der Schweiz – einer Umgebung, die Manfred Eigen als passionierter Bergsteiger und Skifahrer liebte.

Mit entscheidenden Impulsen hat Eigen nicht zuletzt die Förderung der Wissenschaft maßgeblich vorangebracht, ob als Vorsitzender des EMBO-Rates oder als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Immunologie in Basel (Schweiz). In den elf Jahren als Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes setzte er sich mit großem Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs ein und etablierte unter anderem einen festgelegten, elternunabhängigen Betrag für Promotionsstipendien. Seine Geburtsstadt Bochum ernannte Eigen 2001 zum Ehrenbürger der Universität, die Stadt Göttingen würdigte ihn mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft im Jahr 2002.

Mit dem Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie hat Manfred Eigen eine Forschungseinrichtung aufgebaut, die bis heute seiner Vision folgt, Antworten auf scheinbar unlösbare wissenschaftliche Probleme durch fachübergreifendes, multidisziplinäres Forschen zu finden und das Entdeckte zugunsten der Menschen zu nutzen. Ideenreichtum und visionäres Denken im Sinne Manfred Eigens prägen bis heute unsere Wissenschaft. Danke, Manfred Eigen! (cr)

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