Warum sich manche Würmer regenerieren, andere aber nicht
Forschende haben wichtige Erkenntnisse gewonnen, warum die Regenerationsfähigkeit im Tierreich eher die Ausnahme ist
Wieso können nur wenige Arten verletzte oder fehlende Körperteile regenerieren, obwohl dies für das Überleben Vorteile bietet? Forschende am Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften haben jetzt mit Kolleg*innen eine mögliche Erklärung gefunden, warum manche Arten in der Evolution die Fähigkeit zur Regeneration entwickelt oder wieder verloren haben. Dazu untersuchten sie bei verschiedenen Plattwurmarten, inwieweit diese ihren Kopf nachwachsen lassen können. Wie sie herausfanden, unterscheiden sich die Arten stark in dieser Fähigkeit, und zwar auch abhängig davon, wie sich die Tiere fortpflanzen.
Schlägt man dem schlangenähnlichen, vielköpfigen Ungeheuer Hydra einen Kopf ab, wachsen ihm zwei neue nach. Ein alter Mythos – doch auch in unserer Tierwelt finden sich Vertreter, die Körperteile nachwachsen lassen können. Einige Plattwurmarten sind sogar wahre Meister darin. Zerschneidet man die Tiere in viele kleine Stücke, wächst aus jedem ein neuer Wurm. Andere Plattwurmarten hingegen können fehlende oder verletzte Organe oder Gewebe nicht ersetzen.
„Regeneration scheint in der Tierwelt eher die Ausnahme zu sein, obwohl es doch für das Überleben große Vorteile bieten sollte. Uns interessiert, warum so vielen Tieren einschließlich uns Menschen die Fähigkeit zur Regeneration fehlt“, erklärt Jochen Rink, Direktor am MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften.
Die weltweit größte Plattwurmsammlung
Mit seiner Abteilung unterhält Rink in Göttingen mit über 40 Arten eine der weltweit größten Plattwurmsammlungen. „Dank dieser Kollektion können wir die Regenerationsfähigkeit der Arten unter standardisierten Laborbedingungen systematisch vergleichen“, so der Zellbiologe. Die kleinen wirbellosen Tiere in Rinks Abteilung stammen aus der ganzen Welt, kommen in Teichen, Bächen, an Land oder sogar im Meer vor und erbeuten in ihren ökologischen Nischen kleinere Lebewesen.
In der bisher größten vergleichenden Studie an Plattwürmern, an der auch Christoph Bleidorn und Felix Thalén vom Johann-Friedrich-Blumenbach-Institut für Zoologie und Anthropologie der Universität Göttingen sowie weitere Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Australien, Brasilien, Österreich und Spanien beteiligt waren, ermittelten die Forschenden bei 36 Plattwurmarten deren Fähigkeit, ihren Kopf zu regenerieren. „Wir haben drei Gruppen gefunden“, beschreibt Miquel Vila-Farré, Erstautor der jetzt im Fachmagazin Nature Ecology and Evolution veröffentlichten Studie, die Ergebnisse. „Die erste Gruppe verfügt über schlechte bis keine Regenerationsfähigkeiten, die zweite kann eingeschränkt Körperteile ersetzen und die dritte weist eine zuverlässige Kopfregeneration auf. Diese Unterschiede machen die Evolutionsgeschichte der Kopfregeneration bei Plattwürmern besonders interessant.“
Dynamische Evolution der Kopfregeneration
Die Forschenden rekonstruierten im nächsten Schritt, zu welchem Zeitpunkt der Evolution die verschiedenen Arten ihre Fähigkeit zur Kopfregeneration entwickelten beziehungsweise verloren. Mithilfe genetischer Stammbaumanalysen stellten sie fest, dass die Evolution der Kopfregeneration unerwartet dynamisch ablief. Vila-Farré berichtet: „Die Fähigkeit zum Nachwachsen von Organen und Geweben hat sich mehrfach unabhängig voneinander in unterschiedlichen Plattwurmarten entwickelt und einige Arten verloren sie über die Zeit sogar wieder.“ Dabei scheinen die eingeschränkten oder fehlenden Fähigkeiten zur Regeneration immer auf dem gleichen molekularen Wirkmechanismus zu beruhen.
Aus früheren Experimenten weiß das Team um Rink bereits, dass molekulare Signale die Fähigkeit zur Regeneration maßgeblich beeinflussen. Der Max-Planck-Direktor erklärt: „Bei der Regeneration von Plattwürmern funktioniert ein bestimmter Signalübertragungsweg wie ein molekularer Schalter.“ Ist der sogenannte Wnt-Signalübertragungsweg ‚angeschaltet‘, wird ein Schwanz regeneriert. Steht der Schalter dagegen auf ‚aus‘, bildet sich immer ein Kopf. Hemmten die Wissenschaftler*innen den Wnt-Signalweg bei verschiedenen Plattwurmarten, verbesserte dies deren Regenerationsfähigkeit. Selbst Arten mit eingeschränkter Regeneration, zum Beispiel der australische Plattwurm Cura pinguis, konnten wieder kopfähnliche Strukturen neu bilden.
Regenerationsfähigkeit für die Teilung
Wie die Forschenden zeigten, spielen Wnt-Signale auch beim Bilden und Aufrechterhalten des Fortpflanzungssystems eine wichtige Rolle. Dazu untersuchten sie Stämme der Plattwurmart Schmidtea mediterranea, die sich entweder ungeschlechtlich oder geschlechtlich vermehren. „Plattwürmer, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, spalten sich selbst in zwei Teile, und jedes Stück wächst zu einem neuen Wurm heran. Diese Spezies brauchen Regenerationsfähigkeiten für die Vermehrung“, sagt Vila-Farré. Im Gegensatz dazu pflanzen sich die Arten mit begrenzter Regenerationsfähigkeit fast ausschließlich sexuell fort. Das heißt, sie legen Eier und müssen für die Reproduktion keine Körperteile nachbilden. Dazu passen auch die Ergebnisse des Teams: Der Wnt-Signalweg war im sexuellen Stamm von Schmidtea mediterranea wesentlich aktiver.
Die Forschenden vermuten, dass ein höherer Gehalt an Wnt-Signalen die Bildung von Hoden und Eidotter fördert, aber dies gleichzeitig zu Lasten der Regenerationsfähigkeit geht, da dies eine Hemmung des Wnt-Signalübertragungsweg erfordert. „Dem Gewinn oder Verlust von Regenerationsfähigkeiten in verschiedenen Plattwurmarten könnten Wechselwirkungen zwischen dem Wnt-Signalweg und dem Fortpflanzungssystem zugrunde liegen“ so Rink. „Unsere Vermutung ist, dass sich die Regenerationsfähigkeit in Plattwürmern nicht zum Zweck der ‚Reparatur‘ von Wunden entwickelt hat, sondern zum Zweck der ungeschlechtlichen Fortpflanzung durch Teilung. Dies bietet eine mögliche Erklärung, warum in der Natur Arten mit und ohne Regenerationsfähigkeit entstanden sind.“ (kr/cr)