Multiple Sklerose: Myelin kann Überleben der Nervenfasern bedrohen
Untersuchungen gewähren neue Einblicke in die Mechanismen der Erkrankung
Die Multiple Sklerose (MS) betrifft weltweit Millionen von Menschen und bisher ist keine Heilung dieser Erkrankung des zentralen Nervensystems möglich. Die Beschädigung von Nervenfasern, auch Axone genannt, ist verantwortlich für die Erkrankungsschwere von Patient*innen und den Verlauf der MS. Die Schutzschicht der Axone, das Myelin, spielt dabei eine Schlüsselrolle und Forschende der Universität Leipzig und des Max-Planck-Instituts (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen haben nun herausgefunden, dass das bisher als schützend angesehene Myelin das Überleben der Axone sogar gefährden kann. Die Erkenntnisse wurden aktuell im renommierten Fachjournal Nature Neuroscience publiziert und eröffnen einen neuen Blickwinkel für zukünftige Forschungsansätze und therapeutische Möglichkeiten der Erkrankung.
Die Multiple Sklerose ist eine schwerwiegende neurologische Erkrankung mit zumeist bleibender Behinderung. Weltweit sind ca. 2,9 Millionen Menschen betroffen, 240.000 allein in Deutschland. Die genaue Ursache der Erkrankung ist bisher nicht geklärt, aber ein zentrales Merkmal ist ein durch Autoimmunprozesse ausgelöster Verlust der isolierenden Schutzschicht von Axonen, den neuronalen Verbindungen im zentralen Nervensystem. Die als Myelin bezeichnete Umhüllung der Axone wird durch hochspezialisierte Gliazellen, den Oligodendrozyten, ausgebildet und ermöglicht die schnelle Weiterleitung elektrischer Nervenimpulse. Bisher geht man bei der MS davon aus, dass Oligodendrozyten und Myelin durch Immunzellen abgebaut werden, und die dann schutzlosen Axone aufgrund weiterer lokaler Entzündungsprozesse irreversible Schäden davontragen. Der Verlust von Axonen spielt letztlich eine entscheidende Rolle für die Erkrankungsschwere von Patient*innen und den Verlauf der MS.
Aktuelle Forschungsergebnisse eines Teams aus Wissenschaftler*innen der Universität Leipzig und des MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften deuten nun darauf hin, dass sich das Verständnis der Krankheit an dieser Stelle ändern muss. In der aktuellen Studie konnten die Forschungsgruppen zeigen, dass das bisher als schützend angesehene Myelin, das Überleben der Axone sogar gefährden kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Myelinscheiden durch Immunzellen angegriffen wurden, aber weiterhin die Axone umhüllen und damit von der Außenwelt isolieren. Oligodendrozyten sind nämlich nicht nur für die Bildung des Myelins zuständig. Sie leisten auch wichtige Unterstützungsfunktionen für den Energiestoffwechsel der Axone. Insbesondere myelinisierte Axone sind stark von metabolischer Unterstützung abhängig, da sie kaum eigenen Zugang zu Nährstoffen haben. Für die Unterstützung myelinisierter Axone durch eine Myelinscheide hindurch ist es erforderlich, dass die Architektur des Myelins intakt ist, einschließlich der engen Kommunikationskanäle zwischen Oligodendrozyten und Axonen.
„Wenn Oligodendrozyten einer akuten entzündlichen Umgebung ausgesetzt sind, könnten sie ihre unterstützende Funktion für die Nervenfasern verlieren und das Myelin wird zu einer Bedrohung für das Überleben der Nervenfasern“, beschreibt Klaus-Armin Nave vom MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften die eingangs aufgestellte Forschungshypothese des Teams. Um ihre Vermutung zu überprüfen, untersuchten die Forschenden Gewebeproben von Patient*innen mit Multipler Sklerose und zusätzlich verschiedene Mausmodelle dieser Krankheit, um den Autoimmunangriff auf das Myelin experimentell nachzustellen. Dabei konnten sie erstmals in den Gewebeproben der Erkrankten mit Elektronenmikroskopie nachweisen, dass die irreversible Schädigung fast immer in den noch mit Myelin ummantelten Axonen auftritt (s. Abbildung). Umgekehrt konnten die Wissenschaftler*innen mit Hilfe von genetisch veränderten Mausmodellen zeigen, dass „nackte“ Axone in einer akuten entzündlichen Region des zentralen Nervensystems besser vor der Degeneration geschützt sind.
„Indem wir das vorherrschende Bild von Myelin als ausschließlich schützende Struktur hinterfragen, können wir ein tieferes Verständnis der Krankheit gewinnen und möglicherweise neue therapeutische Strategien entwickeln, um die Funktionalität der Nervenfasern zu bewahren", erklärt Ruth Stassart, vom Paul-Flechsig-Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Leipzig. „Anstatt das geschädigte Myelin zu erhalten könnte es therapeutisch sogar besser sein, den schnellen Abbau zu fördern und die Neubildung von funktionsfähigem Myelin zu unterstützen“, ergänzt Robert Fledrich, Wissenschaftler am Institut für Anatomie der Universität Leipzig.
(Nach einer Pressmitteilung der Universität Leipzig)