Regelungstechnik in Nervenzellen

Neurobiolog*innen haben sich lange gefragt, wie eine ermüdungsfreie Signalübertragung ermöglicht wird. Forschende haben jetzt einen wichtigen Regulationsmechanismus entdeckt, mit dem Synapsen von Nervenzellen auch über längere Zeiträume und bei hochfrequenter Aktivität zuverlässig funktionieren.

26. Oktober 2021

Die etwa 100 Milliarden Nervenzellen unseres Gehirns sind erstaunliche Wunderwerke der Biologie. Die Anzahl der zwischen Nervenzellen ausgetauschten Signale variiert aktivitätsabhängig in vielen Hirnbereichen von nur einigen wenigen bis zu über 100 pro Sekunde. Einige Nervenzellen können sogar weit über 1000 Signale pro Sekunde übertragen - und das oft ausdauernd über längere Zeiträume. Neurobiologen haben sich lange gefragt, wie eine solche ermüdungsfreie Signalübertragung ermöglicht wird. Die Neurobiologin Noa Lipstein und ihr Kollege Holger Taschenberger, die zusammen mit Nils Brose am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen arbeiten, haben nun eine mögliche Antwort gefunden.

Die Herausforderung, vor der Nervenzellen dabei stehen, wird deutlich, wenn man sich veranschaulicht, dass ihr Informationsaustausch auf einem hoch komplexen zellbiologischen Mechanismus basiert: Nervenzellen kommunizieren miteinander an spezialisierten Zell-Zell-Kontakten, sogenannten Synapsen. Wird eine sendende Nervenzelle erregt, schüttet sie Neurotransmitter aus. Diese Signalmoleküle binden an Rezeptoren auf der Zellmembran von empfangenden Nervenzellen und beeinflussen so deren Aktivitätszustand.

Hauptakteure in diesem Prozess sind synaptische Vesikel, kleine von einer Membran umhüllte Bläschen, die mit Neurotransmitter-Molekülen beladen sind und diese durch Verschmelzung mit der Zellmembran freisetzen. Um auch bei hochfrequenter und langanhaltender Reizung dauerhaft Neurotransmitter freisetzen zu können, müssen Nervenzellen permanent neue schnell freisetzbare Vesikel zur Verfügung stellen. Der Prozess dieser Vesikelbereitstellung ist eigentlich vergleichsweise langsam, muss aber bei entsprechendem Bedarf schnell um mehr als das Zehnfache beschleunigt werden - unter Umständen auf tausende neue freisetzbare Vesikel pro Sekunde.

Stimulation von Munc13

Wie Nervenzellen das bewerkstelligen und wie der zu Grunde liegende Prozess der Vesikelbereitstellung reguliert wird, war lange unbekannt. "Unsere Arbeitsgruppe hat bereits vor über 20 Jahren einen Eiweißbaustein entdeckt, der für die Vesikelbereitstellung an Synapsen verantwortlich ist", erklärt Holger Taschenberger. "Unsere neue Studie zeigt, dass dieses Munc13 genannte Protein durch dieselben intrazellulären Signale stimuliert wird, die auch die eigentliche Freisetzung von Neurotransmittern steuern."

Die elektrische Reizung von Nervenzellen führt zum Einstrom von Kalziumionen, die an der Synapse die Fusion der mit Neurotransmittern beladen Vesikel auslösen. Ist eine Nervenzelle kontinuierlich aktiv, wirkt sich ihr erhöhter intrazellulärer Kalziumspiegel auch auf die Munc13-Proteine aus. "Unsere Experimente zeigen, dass Munc13-Proteine bei erhöhtem Kalziumspiegel an die Zellmembran binden. Diese biochemische Aktivierung von Munc13 beschleunigt die Rate, mit der neue schnell freisetzbare Vesikel bereitgestellt werden", fasst Noa Lipstein ihre Ergebnisse zusammen. "So können Synapsen auch über längere Zeiträume und bei hochfrequenter Aktivität zuverlässig funktionieren. Blockiert man dagegen diesen Regulationsmechanismus, arbeiten Synapsen ungenauer, ermüden stärker in Phasen langanhaltender Belastung und erholen sich im Anschluss daran langsamer."

Lipstein und Taschenberger sind überzeugt, einen wichtigen Schlüsselmechanismus entdeckt zu haben, der die Signalverarbeitung im Gehirn bestimmt: "Wir haben jetzt für zwei Hirnregionen gezeigt, wie kritisch dieses Regulationsprinzip für die Funktion von Nervenzellnetzwerken ist - für das Richtungshörsystem und den Hippokampus, der Lern-und Gedächtnisleitungen steuert - und wir erwarten, dass andere Hirnregionen ähnliche Mechanismen nutzen, um ihre Rechenleistung zu optimieren", meint Lipstein. Zusammen mit Holger Taschenberger und Nils Brose will sie nun untersuchen, wie sich der neu entdeckte Regelprozess auf Hirnfunktion und Verhalten auswirkt. Die Vorhersage der theoretischen Neurowissenschaften ist, dass die durch Munc13 regulierten Synapseneigenschaften so grundverschiedene Schlüsselprozesse wie Arbeitsgedächtnis, Richtungshören oder die Anpassung von Sinnessystemen an wechselnde Reize kontrollieren. "Das wollen wir jetzt nachweisen", so Taschenberger zu den weiteren Plänen. 

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