Dem Immunsystem auf die Sprünge helfen

Dem Immunsystem auf die Sprünge helfen

Die Forschungsgruppe Quantitative und System-Biologie von Juliane Liepe erforscht seit 2017 am Institut, wie unsere zelluläre Abfallanlage, das Proteasom, das Immunsystem dabei unterstützt, infizierte oder entartete Zellen zu erkennen. Dafür sind enge Zusammenarbeit und Interdisziplinarität wichtig – auch über die Grenzen des Instituts hinaus.

Es ist Donnerstagabend. Während sich das Institut anderswo langsam leert, füllt sich der Seminarraum der Forschungsgruppe Quantitative und System-Biologie erst richtig. Brettspiele liegen auf dem Tisch, Gelächter hallt durch den Raum, das eine oder andere Getränk wird geöffnet: Es ist der wöchentliche Spieleabend der Gruppe um Juliane Liepe. Ob Schach, Dobble oder das Videospiel Mario Kart gespielt wird, ist egal – Hauptsache, man kommt zusammen. Mit viel Spaß und Engagement ist das Team nicht nur nach Feierabend unterwegs, sondern auch in seiner Forschung, wo das Thema deutlich komplexer ist als eine Spielanleitung.

Recycling für das Immunsystem

Plastik, Elektronik, Papier – unser alltäglicher Abfall wird im besten Fall wiederverwertet. Auch lebende Zellen sparen mit ihren Ressourcen, indem sie nicht mehr benötigte Bausteine mithilfe der zellulären Abfallanlage, dem Proteasom, recyceln. Der große Proteinkomplex sieht aus wie eine Tonne und ist innen hohl. Anhand eines molekularen Labels namens Ubiquitin, vergleichbar mit einem Strichcode, erkennt er defekte oder ausgediente Proteine. Diese werden im Proteasom in kleinere Einheiten, sogenannte Peptide, zerlegt. Sie können nun als Bausteine für neue Proteine verwendet oder an die Zelloberfläche gebracht werden, wo sie als „Signalflaggen“ für unser Immunsystem dienen. Bestimmte Zellen unserer Immunabwehr, die T-Zellen, prüfen, ob diese Peptide körpereigen oder fremd sind. Stammen letztere zum Beispiel aus Viren oder Krebszellen, können die T-Zellen die befallenen Zellen zerstören.

Doch das Proteasom kann noch mehr: Ähnlich wie Papierschnipsel, die sich anders aneinanderlegen lassen, kann es zuvor zerschnittene Proteine zu neuen Peptiden zusammenfügen. Doch wozu dieser Aufwand? „Wenn ein Protein in kleinere Bestandteile zerlegt wird, gibt es je nach Anzahl der Schnittstellen eine feste Zahl von Peptiden. Der Trick beim Peptid-Spleißen ist, dass die Fragmente neu miteinander kombiniert werden und neue Peptid-Varianten entstehen“, sagt Juliane Liepe. Was Wissenschaftler*innen lange für eine Kuriosität hielten, stellte sich als häufiger heraus als gedacht: Unter den Peptiden, die dem Immunsystem präsentiert werden, befindet sich ein beträchtlicher Anteil gespleißter Peptide. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass diese wichtige Immunfunktionen einnehmen. „Obwohl das Peptid-Spleißen bereits vor 20 Jahren erstmals beschrieben wurde, ist der Mechanismus dahinter noch immer nicht vollständig verstanden“, berichtet die Postdoktorandin Nyet Cheng Chiam. „Das macht die Forschung daran so faszinierend.“

Multidisziplinär ans Ziel

Die Forschungsgruppe interessiert sich besonders dafür, welche gespleißten Peptide zur Immunabwehr beitragen und wie man sie vorhersagen kann. Um das herauszufinden, kombiniert das Team biochemische und bioinformatische Methoden. „Wir regen den Abbau bestimmter Proteine im Reagenzglas an und untersuchen dann, ob dabei gespleißte Peptide entstehen“, beschreibt der Postdoktorand Wai Tuck Soh das Experiment. Zur Analyse der Abbauprodukte des Proteasoms greifen die Forschenden unter anderem auf die Geräte und Expertise von Henning Urlaubs Forschungsgruppe Bioanalytische Massenspektrometrie zurück. Auch wenn einige von ihnen im Labor arbeiten, finden 90 Prozent der Forschung am Computer statt. Das Team um die Bioinformatikerin entwickelt dabei spezielle Computerprogramme, um gespleißte Peptide zu identifizieren und vorherzusagen. „Um gespleißte Peptide in großen Datensätzen aufzuspüren, müssen wir ständig Algorithmen entwickeln und verbessern“, schildert der Doktorand Yehor Horokhovskyi.

Dem Krebs auf der Spur

Gespleißte Peptide können beispielsweise spezielle Mutationen enthalten, die auf eine Krebszelle hindeuten. „Versteht man, welche Peptide auf der Oberfläche von Krebszellen präsentiert werden, kann man dem Immunsystem gewissermaßen nachhelfen“, erklärt die Forschungsgruppenleiterin. Denn viele Krebszellen haben Strategien entwickelt, um nicht bekämpft zu werden. Zum Beispiel haben sie das Transportsystem der Peptide zur Zelloberfläche so mutiert, dass nur noch wenige dort ankommen – die Immunantwort fällt schwächer aus. Kennt man die Tumorpeptide, die Krebszellen dem Immunsystem präsentieren, können sich diese zukünftig möglicherweise für Immuntherapien nutzen lassen.

Wenn das Team vielversprechende Peptidkandidaten entdeckt hat, werden diese von Kooperationspartnern in anderen Laboren und Einrichtungen an Proben von Patient*innen getestet. Dort wird untersucht, ob das entsprechende Peptid eine Abwehrreaktion auslöst, wenn es den Immunzellen in den Blutproben zugesetzt wird. Ein Beispiel für einen Erfolg ist die Identifizierung eines gespleißten Peptidkandidaten durch die Liepe-Gruppe mit einer Mutation, die unter anderem in Bauchspeicheldrüsenkrebs vorkommt. Auch Peptide gegen andere Krebsarten stehen kurz davor, getestet zu werden.

Inspiration durch Kooperation

Seit 2017 hat Juliane Liepe ihr eigenes Team am MPI-NAT. Während dazu anfangs nur wenige Doktorand*innen gehörten, zählt es 2024 bereits zehn Mitglieder. Darüber hinaus besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Molecular Immunology Laboratory unter der Leitung von Michele Mishto am Francis Crick Institute in London (Vereinigtes Königreich). Die Kooperation geht so weit, dass die Forschungsgruppen ihre Labormeetings gemeinsam abhalten – eine Doktorandin arbeitet sogar in beiden Gruppen und pendelt regelmäßig. Die Zusammenarbeit bringt die Forschung voran: „In den letzten Jahren sind daraus oft neue Ideen entsprungen“, erinnert sich die Bioinformatikerin. „Je mehr kluge Köpfe über bestimmte Probleme nachdenken, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir gute Lösungen finden.“ (eh / cr)

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