Auf den Wurm gekommen
Manche schrumpfen und wachsen, andere regenerieren Körperteile. Manche altern und sterben, andere scheinen ewig zu leben. Plattwürmer kommen an Land und im Wasser vor, auf allen Kontinenten der Erde. Am MPI-NAT geben sie unseren Forschenden der Abteilung Gewebedynamik und Regeneration von Jochen Rink Einblicke in Fragen zu Evolution, Regeneration und vielleicht auch Unsterblichkeit.
Ein Wurm saugt sich mit seinem Schwanz am Glas des Aquariums fest, während der Kopf vorwärts kriecht und den Körper in die Länge zieht – solange, bis er schließlich zerreißt. In der Tierhaltung unseres Instituts ist dieses Schauspiel häufig zu beobachten: Denn so vermehrt sich der Plattwurm Schmidtea mediterranea asexuell. Aus den Stücken eines zerteilten Wurms wächst innerhalb von zwei Wochen jeweils ein gesundes Tier heran. Eine Gruppe besonderer Stammzellen, die sogenannten Neoblasten, machen dies möglich. Die Nachkommen dieser Zellen können jedes Gewebe bilden und ersetzen nach Bedarf alle Körperteile – das gilt sogar für Kopf, Auge und Gehirn.
Forschung am Wurm
Mit ihren besonderen Eigenschaften werfen Plattwürmer viele Fragen auf, die das Team der Abteilung Gewebedynamik und Regeneration von Jochen Rink beantworten möchte. „Was uns brennend interessiert ist: Woher ‚wissen‘ die Neoblasten im Körper eines zerteilten Tieres, welche Organe fehlen und welche Gewebe daher nachgebildet werden müssen?“, erzählt der Direktor. Dazu kommt, dass sich nicht alle Plattwurm-Arten regenerieren können. Manche haben diese Fähigkeit im Laufe der Evolution wieder verloren. Warum?
Um den Plattwurm-Mysterien auf den Grund zu gehen, arbeitet das Team in verschiedenen Forschungsbereichen: von Molekular- und computergestützter Biologie bis hin zu Genomik, Taxonomie und Feldforschung. So konnte die Abteilung bereits einen entscheidenden molekularen Schalter nachweisen, der die Regenerationsfähigkeit maßgeblich beeinflusst – den sogenannten Wnt-Signalübertragungsweg. Wenn dieser „an“ ist, regenerieren Planarien immer einen Schwanz; steht der Schalter dagegen auf „aus“, bildet sich immer ein Kopf. Dies gilt sogar in der Planarien-Art Dendrocoelum lacteum, die normalerweise nicht in der Lage ist, einen Kopf in den hinteren Körperpartien zu regenerieren. Doch schalteten die Wissenschaftler*innen den Wnt-Signalweg im Experiment aus, konnte selbst in dieser Art ihr Kopf nach Verlust wieder vollständig nachwachsen.
Ein weiteres faszinierendes Merkmal der Plattwürmer ist, dass sie keine feste Körpergröße aufweisen. Ein einzelnes Tier der Art Schmidtea mediterranea kann im Verlauf seines Lebens zwischen 0,5 und über 25 Millimeter groß sein, abhängig vom Nahrungsangebot. „Wir konnten bestätigen, dass die Tiere wachsen und schrumpfen, indem sich hauptsächlich die Anzahl, nicht aber die Größe der Zellen ändert“, erklärt Rink. „Dieselben Individuen können so zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus 5.000 bis mehreren Millionen Zellen bestehen.“ Weiter entdeckte seine Gruppe, dass die Wachstums- und Schrumpfrate von der Größe des Tiers abhängt. Woher der Wurm, beziehungsweise dessen Neoblasten, jedoch „wissen“, wie groß er ist, bleibt eine weitere offene Frage.
„Glühwürmchen“ mal anders
Um besser zu verstehen, wie die Zelldynamik und -kommunikation der Plattwürmer funktioniert, entwickeln die Wissenschaftler*innen eine Methode, um diese Prozesse sichtbar zu machen. Das ambitionierte Ziel der Forschenden: in das Erbgut der Tiere ein Gen für ein fluoreszierendes Protein einschleusen, um regeneriertes Gewebe zum Leuchten zu bringen. „Wir möchten den Stammzellen später durch das Mikroskop dabei zusehen, wie sie Körperteile neu bilden“, sagt Rink. Anders als bei Fruchtfliegen oder Zebrafischen sind Genveränderungen bei Plattwürmern bislang nicht gelungen. „Wir hoffen, die Technik in ein bis zwei Jahren erfolgreich anzuwenden. Unser Traum ist es, dann den molekularen und zellulären Prozessen rund um die Regeneration live und in Farbe zusehen zu können.
Von Turbo-Würmern und Flamenco
Für die Abteilung züchtet die Tierhaltung unseres Instituts ungefähr 60 wasserlebende Plattwurmarten, die in einigen Aquarien und rund 250 Plastikboxen untergebracht sind. „Spannend wird es, wenn eine neue Art ankommt“, meint Jens Krull, der Manager der Sammlung. Tierpflegerin Sara Rudert ergänzt: „Dann ist Detektivarbeit gefragt, denn jede Spezies hat andere Ansprüche. Da es einen Großteil der Arten in keinem anderen Labor gibt, müssen wir alles selbst herausfinden.“ Ihre Kollegin Jana Fahrenbach holt eine Box mit wenigen Millimeter langen, hellen Tieren hervor. „Das sind unsere ‚Turbo-Würmer‘. Im Vergleich zu vielen anderen Arten, die eher träge im Wasser treiben, geben die hier regelrecht Gas.“ Für jede Art erstellen die Tierpflegerinnen einen genauen Plan über die optimale Wasserqualität, Ernährung und Temperatur. Nur beim Futter sind sich die meisten Plattwürmer einig: Pürierte Kalbsleber schmeckt am besten!
Wohin die Reise geht
In der Plattwurm-Sammlung geht es international zu. Dort leben Tiere aus Indien, Japan, den USA, Brasilien, Island, Australien und mehreren Ländern Europas Wie viele Plattwurmarten es weltweit gibt, ist nicht bekannt. „Als Plattwurm-Spezialist entdeckt man immer wieder neue Arten“, erzählt Miquel Vila Farré, wissenschaftlicher Kurator der Plattwurmsammlung. In der Abteilung ist der ausgebildete Zoologe Experte für die Biologie der Tiere. „Mehr als zehn Arten habe ich in meiner Karriere bisher beschrieben.“ Seinen persönlichen Liebling hat er Phagocata flamenca genannt, denn die geschwungenen Flanken des Wurms erinnern an das wallende Kleid einer Flamenco-Tänzerin.
Anfang 2020 baute das Team eine Feldstation am Baikalsee in Sibirien auf, laut Rink das „Galapagos der Plattwürmer“. Geplant war eine enge Kollaboration mit den russischen Kolleg*innen. Doch nun macht der russische Angriffskrieg in der Ukraine die Zusam - menarbeit unmöglich – das Projekt liegt auf Eis. Dafür blickt der Direktor optimistisch in eine andere Ecke der Welt: In Ostafrika vermutet er diverse, unerforschte Plattwurmarten. Für dieses Jahr ist zudem eine Exkursion nach Australien geplant. Dort werden die Wissenschaftler*innen nach neuen Arten suchen, um ihre Forschungsfragen systematisch beantworten zu können. Die Plattwurm-Kollektion am Faßberg wird also weiter wachsen. (jw / kr / cr)