Nicht nur „An oder Aus”: Mikro-RNAs sorgen für die Feinabstimmung bei der Genexpression

Forschungsbericht (importiert) 2014 - Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften

Autoren
Shcherbata, Halyna R.
Abteilungen
Max-Planck-Forschungsgruppe Genexpression und Signalwirkung
Zusammenfassung
Die Forschungsgruppe Genexpression und Signalwirkung befasst sich mit den vielfältigen Funktionen von Mikro-RNAs (miRNAs) unter Stressbedinungen oder im Krankheitsfall. Dank miRNAs können Fehler oder zufällige Schwankungen bei der Genexpression abgefedert werden mit dem Vorteil, dass Zellen sich korrekt spezialisieren und ihre Eigenschaften bewahren. Dies garantiert, dass jede Zelle über ihr jeweils optimales Repertoire an Proteinen verfügen kann und somit ihre spezifischen Aufgaben erfüllt. Als Modellorganismus dienen Fruchtfliegen der Art Drosophila melanogaster.

Kleine RNA-Abschnitte regulieren das Ablesen von Genen

Mikro-RNAs (miRNAs) sind kurze RNA-Moleküle, die im Genom kodiert, aber nicht in Proteine umgeschrieben werden. Stattdessen regulieren miRNAs die Boten-RNAs (messenger RNAs, mRNAs) anderer Gene. Dazu bilden miRNAs und mRNAs einen Komplex zusammen mit bestimmten Proteinen, wodurch das Ablesen der mRNAs und damit am Ende die Produktion der jeweils kodierten Proteine reguliert wird. Im menschlichen Genom wurden mehr als 1500 verschiedene miRNAs gefunden, eine einzige miRNA kann dabei wiederum Hunderte verschiedener mRNAs beeinflussen. Es ist daher nicht überraschend, dass miRNAs viele wichtige Funktionen bei der Entwicklung und Spezialisierung von Zellen sowie bei Zellteilung und beim Zelltod haben.

Darüber hinaus sind miRNAs auch an der Entstehung verschiedener Krankheiten wie etwa Krebs, Stoffwechselstörungen, Muskeldystrophien (Abb. 1) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen beteiligt. Im Detail zu verstehen, wie genau miRNAs in der Zelle wirken, ist daher essentiell, um Möglichkeiten für etwaige therapeutische Interventionen zu eröffnen. miRNAs wurden erst vor etwa 20 Jahren in Fadenwürmern entdeckt, und auch wenn seitdem bemerkenswerte Fortschritte zur Funktionsweise und Rolle von miRNAs gemacht wurden, bleiben noch zahlreiche Fragen offen.

Jede Körperzelle enthält im Wesentlichen den gleichen, durch die DNA festgelegten Bauplan. Die unterschiedlichen Eigenschaften der Zellen kommen erst dadurch zustande, dass in jeder Zelle ein spezifisches Repertoire an Proteinen produziert wird. So sind beispielsweise bestimmte Proteine essentiell für die Bildung des Muskelgewebes; die Bildung derselben Proteine im Nervengewebe dagegen hätte jedoch fatale Folgen. Um wiederum zu kontrollieren, welche Gene an- oder abgeschaltet werden müssen, sind spezialisierte Proteine, sogenannte Transkriptionsfaktoren, notwendig.

Häufig jedoch werden beim Ablesen der Gene Fehler gemacht, und darüber hinaus müssen sich die Zellen und der gesamte Organismus ständig auf wechselnde Umweltbedingungen einstellen. Dadurch kommt es mitunter zu starken Schwankungen beim Ablesen der Gene. Um trotzdem sicherzustellen, dass stets die korrekte Menge des jeweiligen Proteins gebildet wird, regulieren miRNAs diejenige Menge an mRNAs, die für die Protein-Produktion zur Verfügung stehen muss. Anders als viele Transkriptionsfaktoren sind miRNAs demnach für die Feinabstimmung der Protein-Produktion zuständig. In anderen Fällen gewährleisten miRNAs, dass Gene, deren Produkte in der jeweiligen Zelle schädliche Folgen haben könnten, unter gar keinen Umständen abgelesen werden.

Muskeldystrophien als Folge defekter miRNA-Regulation

Allein in Deutschland sind etwa 30.000 Menschen von Muskeldystrophien betroffen. Die Hauptsymptome dieser chronisch verlaufenden Erkrankungen der Skelettmuskulatur sind progressive Muskelschwäche und Muskelschwund. Bislang gibt es keine ausreichenden Möglichkeiten für Therapien oder gar Heilung. Die häufigste Ursache für Muskeldystrophien sind Mutationen des evolutionär konservierten Dystrophin-Dystroglykan-Komplexes in der Membran der Skelettmuskelzellen. Dieser Komplex verbindet das Zytoskelett der Zelle mit ihrer Umgebung, der sogenannten extrazellulären Matrix. Auch Fruchtfliegen entwickeln Muskeldystrophien, wenn sie diesen genetischen Defekt aufweisen, der schon in früheren Experimenten beschrieben wurde (Abb. 2; [1]). Die Fruchtfliege wird daher seit Jahren schon erfolgreich als Modellorganismus eingesetzt, um die genauen Ursachen für Muskeldystrophien zu erforschen. Der für Muskeldystrophien typische Muskelschwund kann interessanterweise auch in gesunden Fliegen induziert werden, wenn sie Stress ausgesetzt werden – ein Faktor, bei dem miRNAs neueren Ergebnissen folgend eine wichtige Rolle spielen [2].

Die Funktion von miRNAs bei der Entwicklung von Muskeldystrophien im Detail zu verstehen könnte daher dabei helfen, neue Strategien zu deren Behandlung zu entwickeln. Das Ziel der Forscher ist deshalb zum einen, die komplexen Regulationsnetzwerke zu entziffern, mit deren Hilfe Muskelzellen ihre spezifischen Merkmale entwickeln und aufrechterhalten. Zum anderen wollen die Forscher wissen, auf welche Weise ein defekter Dystrophin-Dystroglykan-Komplex diese Regulationsmechanismen stört und so zum Muskelschwund führt.

Die miRNA-9a ist beispielsweise wichtig, damit sich die Übergänge zwischen Muskeln und Sehnen korrekt bilden können. Das Protein Dystroglykan ist im Muskelgewebe zwar unentbehrlich, doch wenn es statt in Muskel in Sehnenzellen gebildet wird, können sich die Sehnen-Muskelübergänge nicht korrekt ausbilden und es kommt zu schweren Entwicklungsschäden (Abb. 3; [3]). Die miRNA-9a verhindert, dass muskelspezifische Gene wie Dystroglykan in anderen benachbarten Geweben abgelesen werden. Einzelne Gene werden jedoch meist nicht nur von einer einzigen miRNA gesteuert. Die miRNA-310 Familie ist ebenfalls an der Steuerung des Dystroglykan-Komplexes beteiligt [4].

Aufrechterhaltung und Differenzierung adulter Stammzellen: gesteuert durch miRNAs

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Erforschung von miRNAs als wichtige Regulatoren von Stammzellen. Embryonale Stammzellen haben das Potenzial, sich zu jeder beliebigen Körperzelle zu entwickeln und einen kompletten Organismus neu zu bilden. Ihre Gewinnung aus Embryonen ist jedoch mit zahlreichen Problemen verbunden, und auch wegen weiterer technischer Schwierigkeiten können embryonale Stammzellen bis heute nicht therapeutisch verwendet werden. Im Gegensatz dazu haben Körperstammzellen beziehungsweise adulte Stammzellen ein geringeres Differenzierungspotenzial; sie können jeweils nur bestimmte Körperzellen – wie zum Beispiel verschiedene Typen von Blutzellen – bilden. Sie kommen in fast allen Geweben erwachsener Menschen vor und adulte Blutstammzellen werden seit Jahrzehnten transplantiert, um das Immunsystem betroffener Patienten wiederherzustellen. Unter Umständen kann sich das Potenzial adulter Stammzellen aber auch nachteilig auswirken: Es wird nämlich vermutet, dass Tumore auch aus einzelnen Körperstammzellen hervorgehen können.

Um die Verwendung von adulten Stammzellen in der regenerativen Medizin auszuweiten, muss man daher genau verstehen, wie diese besonderen Zellen gesteuert werden. Einerseits muss die adulte Stammzelle genau die richtige Menge spezialisierter Zellen hervorbringen, andererseits darf sie sich nicht versehentlich selber spezialisieren, sondern muss ihr Stammzellpotenzial erhalten. Um diese Prozesse möglichst genau auszubalancieren, benötigen adulte Stammzellen eine ganz bestimmte Mikroumgebung, die auch Stammzellnische genannt wird. In ihrer Nische wird die jeweilige Stammzelle angeheftet und erhält alle Signalmoleküle, die ihr Verhalten steuern. Nur in der Nische kann eine Stammzelle ihre besonderen Eigenschaften bewahren. Um solche Nischen korrekt auszubilden und sicherzustellen, dass die richtigen Signale an die Stammzellen gesendet werden, und auch um zu garantieren, dass die jeweiligen Stammzellen auf diese Signale entsprechend reagieren können, sind miRNAs essentiell [5, 6, 7].

Auch Fruchtfliegen enthalten adulte Stammzellen, aus denen unter anderem Spermien oder Eier gebildet werden (Abb. 4). Wie viele Eier eine weibliche Fliege produziert, hängt ganz entscheidend von den Umweltbedingungen ab. Eine einzige Fliege kann am Tag Hunderte von Eiern legen; steht die Fliege jedoch unter Stress oder ist das Futter knapp, werden nur wenige oder gar keine Eier abgelegt. Um Energie zu sparen, müssen dann natürlich auch die Produktion der Eier und damit die Aktivität der Stammzellen gedrosselt werden. Das Forscherteam benutzt die Tiere daher, um zu verstehen, wie die adulten Stammzellen in Ihrer Nische gesteuert werden, und konzentriert sich dabei auf die Rolle der miRNAs [6]. Denn: Auch wenn viele Detailfragen in diesem Zusammenhang noch zu klären sind, so ist doch mittlerweile klar, dass miRNAs auf vielfältige Weise dazu beitragen, dass die verschiedenen Zelltypen im Körper korrekt ausgebildet und erhalten bleiben [8].

Ausblick

Seit ihrer Entdeckung vor circa 20 Jahren hat man bemerkenswerte Fortschritte auf dem Gebiet der miRNAs gemacht. Entscheidende Schritte hierbei waren die Aufklärung einzelner Stufen ihrer Herstellung und ihrer Wirkmechanismen. Nicht zuletzt hat man erkannt, dass miRNAs aufgrund ihrer einzigartigen und bemerkenswerten Eigenschaften als Wirkstoffe oder Ansatzpunkte neuer Therapien ein großes medizinisches Potenzial aufweisen. Wie einzelne miRNAs in komplexen Regulationsnetzwerken zusammenwirken, um die Bedürfnisse der einzelnen Zelle mit den sich ständig wechselnden Umgebungsbedingungen zu koordinieren, ist daher eine der wichtigsten Fragen, die derzeit in der biomedizinischen Forschung untersucht werden.

Danksagung

Die Autorin dankt ihrer Mitarbeiterin Annekatrin König für die Übersetzung des englischen Originalmanuskripts und das fachspezifische Lektorat.

Literaturhinweise

1.
Shcherbata, H. R.; Yatsenko, A. S.; Patterson, L.; Sood, V. D.; Nudel, U.; Yaffe, D.; Baker, D.; Ruohola-Baker, H.
Dissecting muscle and neuronal disorders in a Drosophila model of muscular dystrophy

The EMBO Journal 26, 481-493 (2007)
DOI: 10.1038/sj.emboj.7601503

2.
Kucherenko, M. M.; Marrone, A. K.; Rishko, V. M.; Magliarelli, H. de F.; Shcherbata, H. R.
Stress and muscular dystrophy: a genetic screen for dystroglycan and dystrophin interactors in Drosophila identifies cellular stress response components.

Developmental Biology 352, 228-242 (2011)
DOI: 10.1016/j.ydbio.2011.01.013

3.
Yatsenko, A. S.; Shcherbata, H. R.
Drosophila miR-9a targets the ECM receptor Dystroglycan to canalize myotendinous junction formation
Developmental Cell 28 (3), 335-348 (2014)
DOI: 10.1016/j.devcel.2014.01.004
4.
Yatsenko, A. S.; Marrone, A. K.; Shcherbata, H. R.
miRNA-based buffering of the cobblestone-lissencephaly-associated extracellular matrix receptor dystroglycan via its alternative 3'-UTR
Nature Communications 5:4906 (2014)
DOI: 10.1038/ncomms5906
5.
Hatfield, S. D.; Shcherbata, H. R.; Fischer, K. A.; Nakahara, K.; Carthew, R. W.; Ruohola-Baker, H.
Stem cell division is regulated by the microRNA pathway

Nature 435, 974-978 (2005)
DOI:10.1038/nature03816

6.
König, A.; Yatsenko, A. S.; Weiss, M.; Shcherbata, H. R
Ecdysteroids affect Drosophila ovarian stem cell niche formation and early germline differentiation

EMBO Journal 30 (8), 1549-1562 (2011)
DOI: 10.1038/emboj.2011.73

7.
Shcherbata, H. R.; Ward, E. J.; Fischer, K. A.; Yu, J. Y.; Reynolds, S. H.; Chen, C. H.; Xu, P.; Hay, B. A.; Ruohola-Baker, H.
Stage-specific differences in the requirements for germline stem cell maintenance in the Drosophila ovary

Cell Stem Cell 1 (6), 698-709 (2007)
DOI: 10.1016/j.stem.2007.11.007

8.
Kucherenko, M. M.; Barth, J.; Fiala, A.; Shcherbata, H. R.
Steroid-induced microRNA let-7 acts as a spatio-temporal code for neuronal cell fate in the developing Drosophila brain

EMBO Journal 31 (24), 4511-4523 (2012)
DOI: 10.1038/emboj.2012.298

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