Mart de Vries (1925-2002)
Verblüffung und Irritation
Objektkästen

Der Künstler über sich

Mein Leben fing an im Jahre 1925 in Leeuwarden, in der niederländischen Provinz Friesland. Meine erste Teilnahme an einer Ausstellung war, als ich 9 Jahre alt war: eine Zeichnung von Zuschauern im Theatersaal, auf die Rücken gesehen. Alle schauen - zu recht - auf die Bühne, nur einer guckt sich um zu mir. Während der Mittelschule wurde unser Land besetzt. In dieser Zeit machte ich Aquarelle in den grünen Wiesen, mit Wasser aus den klaren Kanälen. In 1944 wurde ich verhaftet zur Erschiessung, jedoch vom Widerstand befreit. Untergetaucht zeichnete ich Porträts mit Farbkreide und ich versuchte Lateinisch zu lernen. Ab dem Jahre 1946 war ich Soldat auf Java, Indonesien, und kam 1949 zurück.

Ich heiratete 1952 und fing aufs neue an in der höheren Mittelschule. Danach absolvierte ich an der Fakultät Haarlem (ein Studium) in Verhaltenspsychologie. Ich war bis 1983 als Werbeleiter tätig und immer habe ich gezeichnet, gemalt, fotografiert, gefilmt, gedichtet und geschrieben. Ab 1975 mache ich Kästchen, kleine Holzkästen mit einem Art-trouvé Inhalt. Seit 1990 wohne ich, aufs neue verheiratet, in Göttingen.

Das war also bis jetzt mein Leben. Nächstes Mal erzählen Sie mir etwas aus Ihrem Leben.

Mart de Vries, 1997

Aus der Laudatio von Georg Hoppenstedt zur Ausstellung vorgestellt am 26. Juli im Künstlerhaus Göttingen

In unserer Ausstellungsreihe "vorgestellt" wollen wir auf Künstler unserer Region aufmerksam machen, deren Arbeit so interessant ist, dass sie mehr Beachtung verdient. Nun ist Mart de Vries eigentlich kein Unbekannter mehr, seit vielen Jahren erfreut er uns mit seinen skurrilen Objektkästen in den Jahresausstellungen vom Kreis 34. Er ist für alle, die Sinn für diese geistreiche Form der künstlerischen Mitteilung haben, schon längst ein Geheimtip.

Mart de Vries gehört einer Fraktion der Kunst an, die gerade in der Gegenwart starke Bedeutung erlangt hat. Es sind die Denkanreger, die durch Verblüffung und lrritation unser Nachdenken herausfordern, denken wir an René Magritte, der mit der Abbildung einer Pfeife bewusst macht, dass Kunst etwas ist, das hinter dem Abgebildeten liegt, wenn er neben die gemalte Pfeife schreibt, "dies ist keine Pfeife".

Die ursprüngliche Wurzel der Arbeit von Mart de Vries scheint mir denn auch bei den Surrealisten zu liegen, bei ihrer Methode, Gegenstände miteinander zu verbinden, die sich nicht üblicherweise aufeinander beziehen, die damit eine groteske und verblüffende Eindringlichkeit erhalten und sowohl unser Unterbewusstsein als auch den kritischen Geist ansprechen, wie beispielsweise Meret Oppenheimers Objekt einer Tasse mit Untertasse, das mit Fell bezogen ist. Eine Kunst also, in der durch überraschende und ungewöhnliche Kombinationen neue Gedanken entstehen und überraschende Erkenntnisse geweckt werden können.

Hier ist Mart de Vries auch ein Enkel unseres "Hausgeistes" - Lichtenberg - der Dinge und Gedanken miteinander in Beziehung setzen wollte, die nicht auf dem geraden Wege liegen, um so neue Gedanken und Erkenntnisse gewinnen zu können, und dessen Sudelbücher voll sind von solchen spielerischen Gedankenexperimenten. Das Spiel und der Zufall sind wesentliche Faktoren dieser Arbeitsweise, Schneckenburger spricht vom "objektiven Zufall", den die Surrealisten mystifiziert haben.

Fundstück

In der Kunst ist es oft ein "Fundstück", das den Künstler angesprochen hat, und bei ihm einen Prozess auslöst, der dann die Kombination von anderen Gegenständen bewirkt - und so entwickelt sich etwas, das vom Spieltrieb bewegt, teils vom Unterbewusstsein gesteuert, teils vom wachen Geist kommentiert, Assoziationen wachruft und neue Gedanken und Einfälle in uns auslöst.

Gedankensplitter hat Lichtenberg seine Sudelbucheintragungen auch genannt, Gedankenfundstücke könnte man zu Mart de Vries' Objektkästen sagen. Es gibt die stillen, leisen Gedankenkästen, die von der Poesie leben, die aus den Gegenständen kommt und ihrem sensiblen Arrangement. Und es gibt die Hammer, die Apercus, wo der Gedanke schlagend ist. Es sind häufig Wortspiele, oder bekannte Sentenzen, die die Gedanken für die Objektkästen ausgelöst haben oder umgekehrt von den Objekten aufgerufen wurden. Überhaupt sind die Kästen nicht ohne die Titel zu denken, sie gehören unmittelbar zur Arbeit dazu. Die Sprache ist die Leimrute, auf die Mart de Vries erst mal getreten ist und auf die er uns dann mit viel Hintersinn zu locken versteht.

Gerade die Sprache ist für einen Ausländer - und Mart de Vries ist durch seinen Namen unschwer als Holländer zu erkennen - auch eine Chance. Gerade die andere Sprache ist für einen Ausländer ein ständiger Anlass zum Vergleich, zum Umdenken, man ist täglich damit konfrontiert, die Sachen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, sie zu drehen und zu wenden und sie nicht einfach als selbstverständlich zu nehmen, wie sie einem mit der Muttersprache zugewachsen sind. Das schafft einen kritischen Blick und einen wachen Geist. So gesehen sollten wir alle viel häufiger Ausländer sein.

Häufig sind es unsere Konsumgüter, denen Mart de Vries seine Aufmerksamkeit schenkt. Besonders, wenn sie im Verfall ihren Zweck verloren haben, gibt er ihnen liebevoll wieder eine Bedeutung. Da gibt es die archäologischen Arbeiten, von Mart de Vries auch so bezeichnet, bei denen die Stofflichkeit alter Dosen oder anderer Fundstücke in der Präsentation herausgeholt und sensibel arrangiert wird. In einem der Kästen lässt er uns in archäologischer Sicht in die Erdschichten sehen. Oben darüber aber schwebt eine Cola-Dose und wir ahnen, das ist das, was in der nächsten Schicht Zeugnis von uns ablegen wird. In einem anderen Kasten hängt das Bild einer Dollarnote, das Mart de Vries in liebevoller Feinarbeit mit Adler und allem Drum und Dran abgemalt hat, aber statt der Währungsaufschrift finden wir eine verrostete Cola-Dose - und statt der Aufschrift "in god we trust" (in Gott vertrauen wir) - lesen wir nun: "in god we rust' (in Gott rosten wir).

Apropos Gott - da gibt es eine Reihe von Arbeiten, die auf die Religion reagieren. Etwas eulenspiegelhaftes kommt da bei Mart de Vries zum Vorschein. Es ist hier nicht der bösartige Stachel des Antiklerikalen im Spiel, ganz im Gegenteil, es ist wie das Bemühen, den Ernst in der Religion ein wenig aufzuheben, sie menschlicher zu machen. Es sind dezente Interventionen, die sagen "seid nicht so ernst dabei, wir haben doch alle unsere Schwächen und wollen auch ein bisschen Spaß dabei haben".

Die Last des Lebens abstellen

Mein absolutes Lieblingsstück ist der doppelflügelige Kasten: "Stell deine Sorgen zur Seite ...", ein holländischer Schlager, wie mir Mart erzählte und schöner kann man nicht aufgefordert werden, die Last des Lebens abzustellen. Vor allem, wenn es eine genormte Last ist und hier jeder sein Kreuz trägt, wie bei diesen Fließbandkruzifixen. Und so sind die Christusse herabgestiegen von ihren Kreuzen und haben die Kreuze abgestellt, sie sind in Fußballtrikots geschlüpft und freuen sich sichtbar des Lebens. Aus derselben Haltung, in der sie leidend am Kreuz hingen, ist nun eine Haltung der Freude zu deuten, drei Männer haben die Arme hoch gerissen und halten sich an den Händen, scheinen vor Freude zu tanzen wie nach einem triumphalen Spiel. Und es sind - nebenbei bemerkt - drei verschiedene Nationaltrikots, deren Träger hier vereint jubeln. Schöner kann man nicht daran appellieren, mit allen Freundschaft zu pflegen und die Freude am Leben als das wichtigste zu nehmen.

Auch formal ist dieser Kasten wunderbar gestaltet, die Grautöne auf der rechten Seite mit dem Arrangement der Kreuze, kontrastiert - gekonnt herausgekitzelt - mit den bunten, lebendigen Farben der linken Seite. Und da ist es wieder spannend und belebend, wie die kleinen Figuren zu der großen roten Fläche in einem lebendigen Spannungsverhältnis stehen. Eine Vitalität entsteht hier, die den hoffnungsvollen Inhalt des Werkes unterstreicht. Ein Meisterwerk ohne jede Frage

"Sachensärge" hat Mart de Vries seine Kästen genannt, eine schockierende Wortkombination - und doch, es ist wahr: Wenn wir nicht den Geist aufbringen, sie zu verstehen, sie zu uns sprechen zu lassen, dann sind die Dinge in den Kästen beerdigt. Aber ich habe keine Angst, dass das passiert. Der Humor von Mart hat uns schon verführt, wir schmunzeln schon, ohne dass wir uns wehren können. Zum Schmunzeln aber auch zum Nachdenken möchte ich Sie in dieser Ausstellung einladen. Mart de Vries würde es vielleicht ein schmunzeliges Nachdenken nennen.

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