Wahre Identität des Gauß-Gehirns aufgeklärt
Walnussartige Strukturen erscheinen auf dem Computermonitor. Sie offenbaren, was sich im Inneren des Magnetresonanztomografen in der Biomedizinischen NMR Forschungs GmbH verbirgt: Es ist das über 150 Jahre alte Gehirnpräparat des Mathematikers Carl Friedrich Gauß. Renate Schweizer überwacht die Messungen, die Schicht für Schicht das innenliegende Gewebe sichtbar machen. Danach platziert sie vorsichtig ein weiteres Gehirn auf den Untersuchungstisch, mit dem normalerweise Probanden in die „Röhre“ gefahren werden. Es stammt von dem Mediziner und Begründer der pathologisch-anatomischen Sammlung der Universität Göttingen, Conrad Heinrich Fuchs – verstorben wie Gauß im Jahr 1855. Die aktuelle Untersuchung der historischen Gehirne, die aus der Sammlung im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen stammen, haben einen konkreten Anlass: „Was Forscher bisher als Gauß-Gehirn untersucht hatten, war gar nicht sein Gehirn – es gehörte dem Mediziner Fuchs. Die Gehirne der beiden Wissenschaftler sind vor vielen Jahren vertauscht worden und müssen daher neu dokumentiert werden“, schildert die Biologin und Psychologin die überraschende Erkenntnis aus ihren Nachforschungen.
Diese unerwartete Entdeckung machte die Wissenschaftlerin während Recherchen zu ihrem Forschungsgebiet – der Gehirnregion um die sogenannte Zentralfurche. In den Windungen entlang der Zentralfurche verarbeitet das Gehirn Reize wie Berührungen, Wärme oder Schmerz und steuert Bewegungen. Am Gauß-Gehirn vermutete Renate Schweizer eine seltene anatomische Variation: eine sichtbare Zweiteilung der Zentralfurche. Sie tritt bei weniger als einem Prozent der Menschen auf. Für die betroffenen Personen ist sie normalerweise unbedeutend, in Einzelfällen kann sie zu minimalen Veränderungen der Motorik und Sensorik führen.
Bilder nicht deckungsgleich
Auf Magnetresonanztomografie (MRT)-Bildern des vermeintlichen Gauß-Gehirns aus der Universitätssammlung, die 1998 von Jens Frahm und seinem Team an der Biomedizinischen NMR Forschungs GmbH aufgenommen wurden, hatte Schweizer eine solche Zweiteilung der Zentralfurche entdeckt. Um ihren Befund zu überprüfen, forscht sie in der Primärliteratur nach. Rudolf Wagner, ein Göttinger Anatom und Freund von Gauß, hatte seinerzeit die Gehirne von Gauß und Fuchs präpariert, untersucht und in Veröffentlichungen von 1860 und 1862 bildlich dokumentiert. Doch auf seinen Abbildungen findet Schweizer die zweigeteilte Zentralfurche – anders als erwartet – nicht etwa am Gauß-Gehirn wieder. Stattdessen passen die MRT-Bilder haargenau auf Wagners Abbildung von Fuchs’ Gehirn.
Schweizers Besuch in der Sammlung im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin bestätigt ihren ersten Verdacht: Das Originalgehirn von Gauß befindet sich tatsächlich im Glasgefäß mit der Aufschrift „C. H. Fuchs“. Das Fuchs-Gehirn wiederum ist etikettiert mit „C. F. Gauss“. „Meine These nach den momentan vorliegenden Informationen ist, dass die Gehirne wahrscheinlich schon relativ bald nach Wagners Untersuchungen in die falschen Gefäße gelangten, als die Oberfläche der Hirnrinde nochmals vermessen wurde“, so die Neurowissenschaftlerin. Weitere vergleichende Arbeiten zu den Gehirnen von Gauß und Fuchs gab es nicht. Und so fiel die Verwechslung später niemandem auf. Dass die Gehirne von Gauß und Fuchs jetzt korrekt zugeordnet sind, ist auch eine wichtige Information für die Göttinger Gauß-Gesellschaft. „Ihr Geschäftsführer Axel Wittmann hat das Projekt von Anfang an aktiv unterstützt und begleitet, sein umfangreiches Wissen war extrem hilfreich, um die Verwechslung aufzudecken“, berichtet Schweizer.
Schätze für die Forschung
Ihre Entdeckung zeigt, wie wichtig historische Sammlungen für die aktuelle Forschung sind. Schweizer bekräftigt: „Es ist ein Glücksfall für uns Forscher, dass die Gehirne in der Sammlung auch nach über 150 Jahren in einem einwandfreien Zustand der Wissenschaft zugänglich sind.“ So konnte sie die Verwechslung eindeutig feststellen und die historischen Gehirne im Magnetresonanztomografen untersuchen. Dafür arbeitete sie eng mit ihrem ehemaligen Teamkollegen Gunther Helms zusammen, der sich in der Serviceeinheit MR-Forschung der Abteilung Kognitive Neurologie an der Universitätsmedizin Göttingen mit der MRT von Hirnpräparaten befasst. Der Leiter der Biomedizinischen NMR Forschungs GmbH Jens Frahm betont: „Wir suchen nicht nach dem Genie in den Hirnwindungen. Für uns steht die langfristige Dokumentation im Vordergrund, um eine Basis für weitergehende Grundlagenforschung zu schaffen.“ Alle MRT-Bilder und Fotografien der historischen Gehirne werden daher digital archiviert und so langfristig für die Wissenschaft gesichert. Für neue Forschungsprojekte sind diese ein wichtiger Impuls. So untersucht Schweizer derzeit anhand der MRT-Bilder die zweigeteilte Zentralfurche in Fuchs‘ Gehirn auch unter der Oberfläche der Hirnrinde.
Mithilfe der MRT-Bilder konnten die Forscher auch nachweisen, dass frühere Veröffentlichungen über das vermeintliche Gauß-Gehirn keine falschen Informationen lieferten. In diesen wurde das Denkorgan des Mathematikers als normal beschrieben. Walter Schulz-Schaeffer, Leiter des Schwerpunkts Prion- und Demenzforschung des Instituts für Neuropathologie an der Universitätsmedizin Göttingen, bestätigt nach einer ersten Begutachtung der aktuellen MRT-Bilder: Das Gehirn des genialen Mathematikers und Astronomen Gauß ist ebenso wie das des Mediziners Fuchs anatomisch weitgehend unauffällig. Beide ähneln sich zudem in Größe und Gewicht. „Die altersbedingten Veränderungen an Gauß’ Gehirn sind für einen 78-jährigen Mann normal. Veränderungen in den Basalganglien lassen auf einen Bluthochdruck schließen“, so der Neuropathologe.
Nicht jede MRT-Untersuchung eines historischen Präparats lässt eine solch klare Aussage zu. Neuropathologen und MRT-Wissenschaftler erforschen daher derzeit gemeinsam, wie sich Gewebe und Organe bei jahrzehnte- oder jahrhundertelanger Aufbewahrung in Alkohol verändern und wie sich mit angepassten MRT-Methoden die Interpretation der erhaltenen Bilder verbessern lässt. Die historischen Gehirne haben indes nach den Untersuchungen wieder ihre wohlverdiente Ruhe in der Universitätssammlung gefunden. Eine Verwechslung ist künftig ausgeschlossen. (cr/es)