Die Hühnereier der Marans-Rasse stellte der Vorsitzende des Rassegeflügelzuchtvereins Göttingen-Grone, Siegfried Machemehl, zur Verfügung. „Die rund 65 Gramm schweren Eier waren für uns ein echter Glücksfall. Denn je größer die Eier, desto detailreichere Bilder können wir aufnehmen“, erklärt Projektleiter Roland Tammer. Die zu Beginn der Forschung zehn Tage bebrüteten Hühnereier kamen in einen regulären Brutkasten mit 37,5 Grad Celsius und 70 bis 90 Prozent Luftfeuchtigkeit.
Jeden Tag zur gleichen Zeit entnahmen die Forscher Shuo Zhang und Arun Joseph eines der Eier und justierten es zwischen einer Magnetspule, mit der sonst menschliche Kiefergelenke untersucht werden. Eine selbst konstruierte Bruthöhle aus einer Brötchentüte, die belüftet und gewärmt wurde, hielt die Brutbedingungen auch während des folgenden Scans in der großen Human-MRT-Röhre aufrecht.
„Entscheidend war für uns, die natürliche Dynamik des Hühnerembryos zu beobachten“, erklärt Tammer. Die unvorhersehbaren Bewegungen im Inneren des Eies waren bei der Bildaufnahme eine besondere Herausforderung. „Je stärker sich das Küken bewegte, desto komplizierter wurde es für uns, die Scan-Ebene nicht zu verlieren und Details exakt zu erkennen.“ Um vergleichbare Schnittbilder zu erhalten, wurde das Ei immer gleich ausgerichtet. Der Kopf des spiralartig gerollten Vogels war der Hauptorientierungspunkt. „Wir haben uns auf das Gehirn und die Glaskörper der Augen als markante und helle Erkennungsmerkmale konzentriert. Diese konnten wir trotz aller Bewegungen immer am sichersten wiederfinden“, sagt Tammer. Mit Schichtaufnahmen längs durch den Körper betrachteten die Wissenschaftler ab dem 20. Entwicklungstag aus verschiedenen Blickrichtungen die Körperhaltung, die Lage der Gliedmaßen und der inneren Organe. Neben der detaillierten Beobachtung der Embryonalentwicklung von Tag zu Tag lag das vorrangige Forschungsinteresse speziell darauf, die Dynamik des Schlupfprozesses zu dokumentieren.
Rund 60 000 Bilder vom schlüpfenden Küken
Das Schlüpfen selbst unterliegt einer biologischen Variationsbreite. Nach 18 Tagen ist das Küken zwar voll entwickelt, aber erst nach 21 Tagen schlupfbereit. Bis es sich aus dem Ei herausgearbeitet hat, können dann wenige Stunden, aber auch schon einmal drei Tage vergehen. Der Schlupfvorgang des gescannten Marans-Kükens zog sich über mehr als 36 Stunden hin – im MRT-Gerät befand es sich mit Pausen rund 24 Stunden lang. „Es war unglaublich spannend zu sehen, wie sein Brustkorb arbeitete und welche Anstrengungen es aufbringen musste, um sich aus der Schale zu befreien“, berichtet Tammer. In verschiedenen Bildserien wurden allein innerhalb der letzten 13 Stunden des Schlüpfens rund 60.000 MRT-Bilder aufgenommen. Aus den Aufnahmen der letzten Dreiviertelstunde des Schlupfprozesses entstanden schließlich mithilfe leistungsstarker Rechner zwei Videos.
Die Wissenschaftler nutzten dazu das neue Bildgebungsverfahren FLASH 2, das im Jahr 2010 von dem Team um Jens Frahm, Leiter der Biomedizinischen NMR Forschungs GmbH, entwickelt wurde. Es ermöglicht durch ein raffiniertes mathematisches Rekonstruktionsprinzip extrem schnelle Aufnahmezeiten von bis zu 50 Einzelbildern pro Sekunde. Anders als Röntgenuntersuchungen ist FLASH 2 – wie alle anderen MRT-Anwendungen – völlig unschädlich für den untersuchten Organismus. „Wir konnten mit FLASH 2 von außen und ganz ohne das lebende Küken zu stören seine Bewegungen in der engen Eischale live mitverfolgen. Dieses Verfahren verheißt in Zukunft neue Wege für eine ganze Reihe von möglichen medizinischen Anwendungen. Ein Beispiel sind diagnostische Eingriffe oder Operationen unter gleichzeitiger MRT-Kontrolle“, fasst der Projektleiter zusammen. (es/cr)