Das Ostwald-Lillie-Nervenmodell
Das Ostwald-Lillie-Nervenmodell ist ein in konzentrierte Salpetersäure eingetauchter und dadurch passivierter Eisendraht, über den nach kurzer lokaler kathodischer Polarisation, die schon durch Berühren mit einem Stück Zink ausgelöst werden kann, eine Aktivitätswelle abläuft, die der Erregungsfortpflanzung eines Nerven vergleichbar ist. Die Erregungswelle auf dem Eisendraht ist bedingt durch Bildung eines wandernden Lokalelementes, in dem jeweils eine aktivierte, also reduzierte Zone die benachbarte passivierte, also oxidierte Zone reduziert und aktiviert. Wie Bonhoeffer mit seinen Schülern zeigen konnte, erfolgt die Auslösung der spontanen Aktivierungswelle, deren Geschwindigkeit je nach experimentellen Bedingungen reproduzierbar in Grenzen zwischen 5x10-4 und 5x101 m/sec variiert werden kann, in Analogie zum lebenden Nerven nur bei Überschreiten einer bestimmten Reizschwelle. Sie konnten ferner zeigen, dass die Reizschwelle bei dicht aufeinander folgenden Reizen und bei aufeinanderfolgenden unterschwelligen Reizen steigt (Refraktivität bzw. Akkomodation) und schließlich bei starken Dauerreizen rhythmische, d.h. periodische Erregungsabläufe, erzielt werden können.
Die Arbeiten mit dem Eisendrahtmodell führten Bonhoeffer schließlich zu allgemeinen Untersuchungen über die Passivität des Eisens, die vom Standpunkt der Korrosionsverhinderung außerordentlich wichtig ist; Bonhoeffer konnte zeigen, dass die Eisenpassivität auf einer festen dünnen Deckschicht aus Eisenoxid (γ-Fe2O3) beruht. Die Arbeiten führten außerdem zu Untersuchungen über periodische Reaktionen an passivierbaren Elektroden. Bonhoeffer konnte schließlich durch Formulierung der entsprechenden Differentialgleichungen die allgemeinen Bedingungen für periodische Reaktionen in heterogenen Systemen angeben. Damit hat er auch die Grundlagen der Elektrodenkinetik gelegt, die die Elektrochemiker noch heute beschäftigt.