Erinnerungen an Leo De Maeyer
Leo De Maeyer – mein Vater. Wie kam der Belgier 1954 eigentlich nach Göttingen und was geschah dann?
Mein Vater hatte fortschrittliche und interessierte Eltern, die Wert auf eine humanistische Erziehung legten und schon in seiner frühen Jugend seinen Forschungs- und Erfindungsdrang in jeglicher Hinsicht unterstützten. Während die beiden älteren Brüder bereits im Internat unterrichtet wurden, konstruierte Leo De Maeyer zuhause furchtlos zum Beispiel eine elektrische Heizung für das Aquarium oder half dem örtlichen Automechaniker. 1948 begann er an der KU Leuven das Studium der Chemie und kurz nach Erhalt des Diploms 1950 unternahm er mit seinen Eltern eine Reise nach Göttingen. Er besuchte das neue MPI für physikalische Chemie und traf dort den Gründungsdirektor Karl Friedrich Bonhoeffer. Leo De Maeyer war unmittelbar fasziniert vom interdisziplinären Geist am Institut, von dem modernen Herangehen an experimentelle Forschung, von den gut ausgestatteten Laboren und technischen Anlagen. Auch die anregende wissenschaftliche Atmosphäre in Göttingen übte eine große Anziehungskraft auf ihn aus. Bonhoeffer wollte ihm gerne die Gelegenheit zu einer Arbeit in Göttingen geben aber einige anfängliche Bedenken des Stipendiengebers (Deutschland? Warum nicht die USA?) erlaubten den Forschungsaufenthalt erst ab 1. September 1954. Schon am 4. September 1954 beschrieb Leo De Maeyer seine Eindrücke in einem Brief an seine Eltern:
Im Institut geht es gut, d.h. ich fange so langsam an zu erfahren, was sie dort eigentlich machen. Und das ist fantastisch. (…) Ich habe jetzt ein eigenes Aufgabengebiet bei einem gewissen Dr. EIGEN, der ungefähr so alt ist wie ich aber sehr viel zu wissen scheint. Er ist eigentlich aus der Physik an die Physikochemie gekommen und ist bereits ein Jahr am MPI. Die Leute haben eine gründliche mathematische Ausbildung und können die Probleme auf eine viel fundamentalere Art anpacken. Hoffentlich komme ich auch so weit. Vorläufig studiere ich die Probleme ein bisschen ein und bin inzwischen mit dem Entwurf einer angepassten Apparatur beschäftigt die es erlauben wird die Reaktionsgeschwindigkeit von H+ + OH - = H2O zu messen. Wie Eingeweihte bemerken werden eine wirklich fundamentale Studie einer fundamentalen Reaktion. Diese Reaktion passiert in etwa einer hunderttausendstel einer millionsten Sekunde (Schnelligkeitskonstante ist nach Berechnung 1,5 x 1011 lit.mol-1sec-1. (Für Kundige)). Es kommt darauf an diese Geschwindigkeit experimentell zu messen, was bisher noch niemals möglich war, was aber mit einer hier entworfenen Methode im Prinzip möglich ist und was wir jetzt ausprobieren werden. Diese Methode ist praktisch ganz elektrisch und elektronisch, was mich natürlich interessiert. Es muss jedoch eine ganz spezielle Impulstechnik gefunden werden, denn es wird mit Spannungen von zehn bis zwanzigtausend Volt gearbeitet. Eine Frage der Apparatur, hier schreckt man wirklich vor nichts zurück. Der Apparat, der bis jetzt gebaut wurde arbeitet sogar mit Spannungen bis hunderttausend Volt. Ein anderes Problem ist dass ich natürlich probieren muss, das sauberste saubere Wasser herzustellen und das ist bisher erst einmal geschehen vor 60 Jahren. Man hat es zwischenzeitlich noch nicht einmal probiert weil es so schwierig ist. Wir werden sehen. Enfin, ich hab bekommen was ich mir gewünscht hatte.
1995 schrieb er über das Zusammentreffen mit Manfred Eigen:
Die Begegnung mit dem richtigen Menschen zur richtigen Zeit ist ein Glücksfall, der den ganzen Werdegang bestimmen kann. Nur wenige Monate bevor ich in Göttingen eintraf, war Manfred Eigen an das Bonhoeffersche MPI gewechselt, um dort mit neuen Methoden chemische Relaxationsprozesse zu untersuchen. Schon beim ersten Gespräch stellte sich heraus, dass unsere Ziele miteinander sehr gut übereinstimmten und ohne langes Überlegen nahmen wir uns gleich die wohl schnellste Elementarreaktion der wässrigen Lösungen vor – die sogenannte Neutralisationsreaktion, die auftritt, wenn das Säure-Ion H+ und das Alkali-Ion OH- miteinander reagieren…
Wie sich zeigte war diese Begegnung ein Glücksfall für beide Seiten, denn nur beiden zusammen gelang es, Reaktionen messbar zu machen, die bis dahin als unmessbar galten:
1954 war die instrumentelle Ausrüstung von Leo De Maeyers Labor noch auf dem Nullpunkt und die Mittel zur Anschaffung der notwendigen Instrumente waren knapp. Mein Vater war praktisch der Einzige am MPI, der gleichzeitig etwas von Chemie und von Elektronik verstand. Dadurch konnte er seine Apparate selbst entwerfen. Zur Erzeugung der Hochspannung dienten ihm alte ausgediente Generatoren für Röntgenröhren, die er in den Kellern einer Klinik aus dem Staub holte. Ein spezieller Kathodenstrahl-Oszillograf und der notwendige Breitbandverstärker mussten vor Ort entworfen und gebaut werden, genauso wie eine automatische Destillationsapparatur mit geschlossenem Kreislauf zur Produktion von Kohlrausch-Wasser. Die Original-Impedanz-Messbrücke der Feldsprungapparatur befindet sich heute im Deutschen Museum in Bonn.
Entgegen allen Erwartungen konnten die geplanten Messungen in weniger als einem Jahr durchgeführt werden; sie lieferten ein detaillierteres Bild der Struktur von Wasserstoff-Ionen, was für den weiteren Verlauf der Untersuchungen über Reaktionen in wässrigem Milieu sehr bedeutend war. Die ersten Ergebnisse wurden bereits bei der Bunsentagung in Goslar am 15. Mai 1955 vorgestellt. Sie rückten Eigen und De Maeyer unmittelbar in den wissenschaftlichen Fokus. Ein weiterer Vortrag dazu erfolgte auf der nächsten Bunsentagung am 10. Mai 1956 in Freiburg, katapultierte die beiden an die internationale Spitze und machte Göttingen zum führenden Zentrum der Reaktions- und Relaxationschemie. Leo De Maeyer erhielt seit November 1955 ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung und im August 1956 schrieb die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), dass sie formell zwar keine Forschungsstipendien an Ausländer geben könne, sie würde aber eine Sachbeihilfe von 7000 DM pro Jahr bewilligen, damit das Institut De Maeyer als Assistent bezahlen könne. Dem fügte die DFG noch einen Betrag von 35000 DM im Februar 1957 zu, womit die Abteilung von De Maeyer neue Instrumente bestellen konnte und so wurde mein Vater wissenschaftlicher Assistent am MPI.
Es folgten Aufenthalte als Visiting Lecturer in den USA: 1960/61 am Massachusetts Institute of Technology, 1963 an der Cornell University in Ithaka und 1966 an der University of Colorado in Boulder. Ich selbst habe an diese Zeit nur Erinnerungen an wunderschöne Ausflüge mit Barbecues der Familien Eigen und De Maeyer in die Rocky Mountains und auch der Dezember 1967 – ich war damals neun Jahre alt – war für mich nur ein Monat, in dem unsere Eltern zusammen mit Eigens eine Reise zum schwedischen König unternahmen.
Eigen hatte sich schon Fragen der Molekularbiologie zugewandt und so war es nur eine Frage der Zeit, bis die bereits von Bonhoeffer geprägte Idee der interdisziplinären Forschungsansätze zur Gründung eines neuen Instituts, des MPI für biophysikalische Chemie, führte und wofür das Grundstück am Faßberg von Eigen und De Maeyer bei einem Spaziergang rund um Nikolausberg entdeckt wurde.
Grete de Maeyer