Höchste europäische Anerkennung für Nachwuchsforschende geht an drei Göttinger Wissenschaftler*innen

5. September 2023

Der Europäische Forschungsrat (ERC) fördert die drei Wissenschaftler*innen am Göttingen Campus Hauke Hillen,  Marieke Oudelaar und Saskia Limbach jeweils mit einem ERC Starting Grant in Höhe von 1,5 Millionen Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren.

Wie stellen die Kraftwerke der Zelle Proteine her? (UMG)

Hauke Hillen, Leiter der Arbeitsgruppe „Struktur und Funktion molekularer Maschinen“ im Institut für Zellbiochemie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), unabhängiger Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften und Mitglied im Exzellenzcluster „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC), wird mit den Fördermitteln untersuchen, wie die Kraftwerke der Zellen – die Mitochondrien – Proteine herstellen.

„Ein wichtiger Schritt bei der Proteinproduktion ist das Umschreiben der genetischen Information der mitochondrialen DNA in RNA, die den Bauplan für die Proteine enthält. Dieser Bauplan wird anschließend weiterverarbeitet, bevor darauf basierend die Proteine hergestellt werden können. Kommt es zu Fehlern bei der RNA-Verarbeitung, zum Beispiel aufgrund eines genetischen Defekts, kann dies zu schwerwiegenden Erkrankungen führen. „Wir wollen den gesamten Lebenszyklus der mitochondrialen RNA – von ihrer Entstehung bis hin zu ihrem Abbau – untersuchen“, erklärt Hillen. „Wir setzen dabei vor allem die Kryo-Elektronenmikroskopie ein. Diese hochmoderne Methode erlaubt es uns, die „Nanomaschinen“, die in den Mitochondrien für die RNA-Verarbeitung zuständig sind, mit fast atomarer Auflösung sichtbar zu machen. Dazu werden tausende Schnappschüsse dieser Moleküle aus verschiedensten Blickrichtungen aufgenommen und am Ende zu einem Gesamtbild zusammengesetzt. Mithilfe der Methode können wir die Vorgänge in den Mitochondrien sehr detailliert verfolgen.“ Mit ihrer Arbeit werden die Forschenden dazu beitragen, die molekularen Mechanismen der Energiegewinnung in den menschlichen Zellen aufzuklären und so neue Therapieansätze für Erkrankungen schaffen, die auf einer Fehlfunktion dieser Prozesse beruhen.

Bereits seit 2022 wurden die Arbeiten des Biochemikers vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur mit dem Förderprogramm „Stay Inspired: Europäische Exzellenz für Niedersachsen“ aus Mitteln des Programms „ZUKUNFT.NIEDERSACHSEN“ unterstützt. Ziel dieser Anschubfinanzierung war es, einen Starting Grant ERC einzuwerben. „Ich gratuliere Prof. Dr. Hauke Hillen und seinem Team herzlich zum ERC Starting Grant. Sie haben sich in einem hochkompetitiven Wettbewerb herausragender europäischer Forscherinnen und Forscher durchgesetzt“, so Niedersachsens Minister für Wissenschaft und Kultur Falko Mohrs. „Mit der Unterstützung durch unser Programm ,Stay Inspired‘ konnten wir als Land einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass der herausragende Antrag erfolgreich entwickelt werden konnte. Die Anerkennung und Förderung durch den Europäische Forschungsrat unterstreicht die Innovationskraft unserer niedersächsischen Forschungslandschaft.“

Wie wird unser Genom organisiert und reguliert? (MPI-NAT)

Die Lise-Meitner-Forschungsgruppenleiterin Marieke Oudelaar erforscht mit ihrem Team am MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, wie Zellen zu Spezialisten werden, die als rote Blutkörperchen unseren Körper mit Sauerstoff versorgen oder als Immunzellen Erreger abwehren. Dazu untersucht die Molekularbiologin, wie Gene auf molekularer Ebene an- und abgeschaltet werden und wie dieser Prozess reguliert wird. Zwar enthalten alle Zellen eines Organismus die exakt gleiche Erbinformation, die in den Genen in unserer DNA verschlüsselt vorliegt. Aber verschiedene Zelltypen aktivieren nur diejenigen Gene, die sie für ihre jeweilige Funktion benötigen. Wie genau der Prozess der Genaktivierung abläuft, ist ein intensiv erforschtes Gebiet mit noch vielen offenen Fragen.

Die DNA einer einzigen menschlichen Zelle wäre auf ihre volle Länge ausgestreckt etwa zwei Meter lang. Um in den winzigen Zellkern zu passen, muss sie sich in dreidimensionalen Strukturen zusammenfalten. Das Team um Oudelaar erforscht, wie die Aktivität der Gene mit der räumlichen Organisation der DNA in den Zellen zusammenhängt. „Die 3D-Strukturen beeinflussen, ob die Gene in der DNA durch Signale aktiviert werden können“, erklärt die Forschungsgruppenleiterin. Mit ihrem Team untersucht sie darüber hinaus, wie genregulatorische Elemente an spezifischen Orten auf dem Genom miteinander wechselwirken, obwohl diese mitunter Hundertausende von Basenpaaren voneinander entfernt liegen.

Mit dem Fördergeld wird die Gruppe um Oudelaar in den nächsten fünf Jahren neue Ansätze verfolgen, um Proteine zu identifizieren, die an solche genregulatorischen Elemente gekoppelt sind. „Die Funktion dieser Proteine wollen wir dann in lebenden Zellen untersuchen, indem wir diese aus dem Zellkern entfernen und wieder hinzufügen. So können wir lernen, wie diese Proteine die Spezialisierung von Zellen steuern“, so die Molekularbiologin. Diese Erkenntnisse sind nicht nur wichtig, um zu entschlüsseln, wie unser Genom organisiert und reguliert wird. Die Forschenden erhoffen sich auch, dass ihre Ergebnisse dazu beitragen, molekulare Grundlagen genetischer Krankheiten besser zu verstehen und eines Tages zu therapieren.

Buchdruckerwitwen im Alten Reich (Universität Göttingen)

Die Historikerin Saskia Limbach von der Universität Göttingen untersucht mit ihrem Team, welche Auswirkungen der durch den Buchdruck ausgelöste, rasante wirtschaftliche Wandel auf die Rechte und Handlungsspielräume von Witwen im Alten Reich hatte. Ausgangspunkt des Projekts "Widows in the Growing Print Industry, c. 1550-1700 (WidowsPrint)" ist die auffallend hohe – jedoch bislang in der Forschung nicht wahrgenommene – Anzahl von Buchdruckerwitwen im Alten Reich, die zum Teil über mehrere Jahrzehnte selbstständig aktiv waren. Diese hohe Anzahl ist auch auf das rasche Wachstum des Gewerbes in diesem Gebiet zurückzuführen. Doch wie schnell das Gewerbe im 16. und 17. Jahrhundert tatsächlich anwuchs, ist aufgrund der stark variierenden Auflagenhöhen, die seit langem Forschende aus verschiedenen Disziplinen vor Probleme stellen, nur schwer nachzuzeichnen.

Daher wird das Projekt anhand einer Vielzahl von unterschiedlichen, zum großen Teil unausgewerteten Quellen erstmals eine valide Datengrundlage für die Berechnungen von Auflagenhöhen erstellen, um so die wachsende Produktion einzelner Druckereien zu vergleichen. In einem zweiten Schritt wird das Projekt mithilfe der neu gewonnenen Daten aufzeigen, inwieweit diese Entwicklungen die wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten von Witwen sowie ihre rechtlichen Positionen beeinflusste.

„Ein wesentlicher Fokus des Projekts liegt auf der Rekonstruktion der professionellen Netzwerke der Buchdruckerinnen, vor allem ihren Beziehungen zu Verlegern, die ganze Auflagen finanzierten und so das Buchgeschäft zunehmend kontrollierten“, so Limbach. „Hierzu werden wir in einer innovativen Methodik unter anderem neue Bilderkennungssoftware einsetzen, die es ermöglicht, anhand wiederverwendeten Bildmaterials bisher unbekannte Netzwerke von Buchproduzentinnen sichtbar zu machen.“

(Eine gemeinsame Pressemitteilung der UMG, der Universität Göttingen und des MPI-NAT)

Über die ERC Starting Grants

Die Europäische Kommission hat den ERC 2007 eingerichtet, um herausragende Wissenschaftler*innen mit innovativen Forschungsprojekten zu fördern. Für den ERC Starting Grant können sich Forschende bewerben, die nach ihrer Promotion zwei bis sieben Jahre in der Wissenschaft tätig waren. Im diesjährigen hoch kompetitiven Wettbewerb um die ERC Starting Grants hat der ERC 400 Starting Grants vergeben, die Fördergelder belaufen sich auf 628 Millionen Euro. Es wurden 14,8 Prozent der eingereichten Anträge gefördert.

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