Oleksiy Kovtun
... erforscht unseren zellulären Paketdienst
Seit September 2021 leitet der Strukturbiologe eine Forschungsgruppe am City-Campus. Mit seinem Team untersucht er die Strukturen und Mechanismen des Frachttransports in unseren Zellen.
Schon als Kind hatte Oleksiy Kovtun ein Interesse daran, die Mechaniken hinter allerhand technischen Geräten zu verstehen. „Eine der größten Sorgen meiner Eltern war es, dass ich unsere Uhren kaputt mache“, lacht der Wissenschaftler. „Ich wollte unbedingt wissen, wie sie funktionieren. Darum habe ich sie immer wieder geöffnet und auseinandergenommen.“ Sein Interesse an den Naturwissenschaften entfachte seine Großmutter, die als Biologielehrerin arbeitete. Sie schenkte dem damals Fünfjährigen ein einfaches Lichtmikroskop und schaute mit ihm darunter Zwiebelschalen und andere Proben an. Diese frühen Erfahrungen weckten die Leidenschaft des Forschers für die Biologie. In seinem Heimatland, der Ukraine, studierte Kovtun Biologie und Biochemie. An der University of Queensland in Brisbane (Australien) promovierte er in Kirill Alexandrovs Gruppe Synthetische Biologie und wechselte später als Postdoktorand in das Team des Strukturbiologen Brett Collins. Anschließend forschte er in John Briggs‘ Gruppe in Heidelberg, mit der er später nach Cambridge (Großbritannien) umzog.
Eine neue Forschungsgruppe entsteht
„Als ich erfuhr, dass ich eine eigene Forschungsgruppe am MPI-NAT aufbauen kann, war ich sehr aufgeregt“, so Kovtun. Göttingen entwickle sich rasant zu einem Zentrum für Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM), nicht zuletzt dank der bahnbrechenden Arbeiten von ansässigen Forschenden wie Holger Stark oder Patrick Cramer. „Kryo-EM ist zwar aufwendig und teuer, aber sie bietet uns einzigartige Möglichkeiten, Probleme in der Strukturbiologie zu lösen. Ein hervorragendes Beispiel ist die Forschung von Patrick Cramers Team an antiviralen Medikamenten gegen SARS-CoV-2. Sie liefert uns Hinweise darauf, wie wir effizientere Medikamente entwickeln können, um die aktuelle Pandemie einzudämmen.“ In Göttingen gibt es eine wachsende Gemeinschaft von Wissenschaftler*innen, die spannende Forschungsprojekte mit der Kryo-EM durchführen – ein Grund, weshalb sich Kovtun besonders auf die Zusammenarbeit und den Austausch mit seinen neuen Kolleg*innen freut.
Doch zunächst muss der Forscher sein Labor am City-Campus einrichten, das er quasi aus dem Nichts aufbaut. „Momentan habe ich nur ein weiteres Teammitglied, aber wir werden uns bald vergrößern“, verrät Kovtun. In den ersten Monaten am Institut bestanden die Arbeitstage des Forschungsgruppenleiters hauptsächlich aus Verwaltungsaufgaben. Da es aufgrund der Pandemie zu Lieferengpässen kam, musste er den Beginn seiner Laborarbeiten verschieben. „Ich habe meine Pläne ein wenig geändert, aber so mehr Zeit gewonnen, um Experimente zu entwickeln und zu überlegen, wie ich mein Labor am effizientesten einrichten kann. Jetzt fühle ich mich sehr gut vorbereitet und kann es kaum erwarten, anzufangen.“
Zelluläre „Lieferwagen“
In Anbetracht seines Forschungsgebiets haben die verspäteten Lieferungen des Wissenschaftlers eine gewisse Ironie. Denn Oleksiy Kovtun erforscht, wie Fracht innerhalb unserer Zellen transportiert wird. In lebenden Zellen müssen eine Menge Güter hin- und hertransportiert werden, seien es Stoffwechselprodukte, Hormone, Enzyme oder Medikamente. Kovtun möchte den Aufbau und die Funktion der „Lieferwagen“ verstehen, die die molekulare Fracht von einem Haupttransportknotenpunkt innerhalb unserer Zellen abholen, den sogenannten Endosomen. Diese Lieferwagen sind molekulare Maschinen, die aus mehreren Proteinen bestehen, die ineinanderpassen, sich bewegen und zusammenarbeiten. Dieses Baustein-Design macht sie vielseitig: Die Lieferwagen können zwischen verschiedenem Frachtgut und verschiedenen Transportzielen wechseln, indem sie ihre Proteine neu anordnen.
„Wir kennen bereits den groben Ablauf, wie diese molekularen Maschinen arbeiten. Sie erkennen und sammeln die zu transportierende Fracht. Dann bilden sie einen Mantel aus Proteinen um die mit Fracht angereicherten Membranen, die sie schließlich aus dem Endosom herausziehen. Zuletzt schicken sie die Ladung an ihren richtigen Bestimmungsort. Dies wird als Membrantransport bezeichnet“, erklärt Kovtun. „Wir sind jedoch weit davon entfernt zu verstehen, wie diese Maschinen zusammengebaut und reguliert werden und wie sie ihre Ladung oder ihre Transportrouten finden.“
Kryo-EM: der Game Changer
Um diese Fragen zu klären, nutzt der Forscher die Kryo-EM, für die er entscheidende Vorteile sieht: „In der Vergangenheit haben wir uns auf die Kristallisation verlassen, um winzige, schwer fassbare Moleküle in Kristalle umzuwandeln – Makroobjekte, die auf ihre strukturellen Eigenschaften untersucht werden können. Die Kristallisation ist jedoch bei größeren Biomolekülen sehr schwierig und bei Membranhüllen nahezu unmöglich. Daher waren wir darauf beschränkt, einzelne Teile oder kleine Untereinheiten der Lieferwagen zu untersuchen. Mit der Kryo-EM können wir nun eine ganze molekulare Maschine auf einmal betrachten, indem wir mithilfe von Computern tausende vergrößerte Bilder von tiefgefrorenen Partikeln der Maschine überlagern, um einen dreidimensionalen Bauplan zu erstellen.“
Der Biologe möchte auch neue Ansätze erforschen, die dabei helfen, die gewünschten Objekte unter das Mikroskop zu bringen: „Meine frühere Forschung hat gezeigt, wie sich einige der Lieferwagen auf Membranen zusammensetzen, allerdings nur im Reagenzglas. Jetzt arbeite ich daran, Wege zu finden, um ihre Architektur auf natürlichen Endosomen oder direkt in Zellen zu erfassen.“
Der große Plan
Selbst kleinste Veränderungen im Membrantransport können fatale Folgen haben. So beeinträchtigen Abweichungen in der Struktur der Lieferwagen möglicherweise das Nervensystem und rufen Krankheiten wie Alzheimer hervor. Störungen des Transportsystems sind nicht selten und können durch Mutationen, Fehlfunktionen, Viren oder Bakterien verursacht werden. „Mein großer Plan ist es, genügend Wissen über die molekularen Lieferwagen zu sammeln, sodass wir ihre Aktivitäten verändern können“, erklärt der Forscher. „Dieses Wissen würde uns helfen, Medikamente zu entwerfen und therapeutische Strategien zu entwickeln. Ich bin sehr gespannt auf die ersten Ergebnisse.“
Von Science-Fiction zum wissenschaftlichen Storytelling
Auf die Frage nach seinen Hobbys sagt Kovtun augenzwinkernd: „Wie wahrscheinlich die Hälfte der Kolleg* innen hier gehe ich sehr gerne joggen oder wandern, um mich von den Arbeitstagen zu erholen. Außerdem habe ich eine Schwäche für gute Geschichten“, verrät er. Besonders gern liest er Science-Fiction-Werke von klassischen Autoren wie Isaac Asimov oder Robert Sheckley. An Science-Fiction-Romanen und -Filmen beeindruckt den Strukturbiologen, wie es den Autor*- innen gelingt, ihrem Publikum komplexe wissenschaftliche Vorgänge zu erklären. „Diese Werke inspirieren mich, meine eigene Forschung mit anderen Augen zu sehen. Ich überlege dann immer, wie ich die Bedeutung meiner Erkenntnisse der Gesellschaft vermitteln kann.“
5 Fragen an Oleksiy Kovtun
Welchen anderen Beruf könnten Sie sich vorstellen?
Fotograf oder bildender Künstler. Ich finde es faszinierend, mit Bildern Geschichten zu erzählen. Das ist nicht viel anders als in der Strukturbiologie.
Wenn Sie irgendwo leben könnten, wo wäre das?
Irgendwo am Meer und in der Nähe von Bergen.
Wie tanken Sie nach einem harten Arbeitstag Energie?
Bewegung ist das beste Mittel, um einen anstrengenden Tag hinter sich zu lassen. Radfahren und Joggen sind erstaunlich effektiv, um sich zu erholen und das Gehirn zu regenerieren. Eine anspruchsvolle Wanderung ist noch besser, wenn es die Zeit erlaubt.
Sie warten auf die Entdeckung/Erfindung von…?
Einer Populismus-resistenten Demokratie. Ich weiß, es ist weit hergeholt und vielleicht utopisch, aber was wäre, wenn...?
Gibt es etwas, von dem Sie sich wünschen, dass es wieder in Mode kommt?
Nachtzüge. Viele von ihnen, die zu allen möglichen Zielen führen. Man verbringt dann zum Beispiel ein Wochenende in Rom und verschwendet keine produktive Zeit mit der An- und Abreise. Außerdem kann man alle Wasserflaschen beim Einstieg in die Züge – anders als beim Fliegen – behalten und kommt gut ausgeruht am Zielort an.