Mareile Schaumburg
Bronzeskulpturen

Einführungsrede von Dr. Rainer Beßling

Herr Dr. Nauber hat in dieser Ausstellung zwei künstlerische Positionen zusammengebracht, die sich vorrangig mit Naturmotiven und -themen beschäftigen. Das Material, das beide Künstlerinnen verwenden, könnte kaum unterschiedlicher sein. Mareile Schaumburg setzt ihre vegetabilen Formen in Bronze um, Haidelis Jacob-Kalähne schneidet der Pflanzenwelt entnommene Motive in Papier. Die Arbeiten der einen entfalten kraft des Körpervolumens ihre Wirkung im Raum, die anderen sind in der Fläche formuliert. Gemeinsam ist beiden, dass sie auf höchst originelle Weise ihre Funde aus der sichtbaren Wirklichkeit in Kunstformen übertragen, die unsere Sicht auf scheinbar Vertrautes verändert.

Die Verfremdung bringt uns dem Wesen der Objekte näher. Der Dialog, in den die Arbeiten der beiden Künstlerinnen hier gestellt sind, ist nicht zuletzt dadurch so reizvoll, dass bei aller Materialdifferenz manche formale Parallele zu finden sind. Beiden gemeinsam ist beispielsweise die Monumentalisierung der Motive. In einem für den Scherenschnitt ungewöhnlich großen Format richtet Haidelis Jacob-Kalähne den Blick auf pflanzliche Formen und organische Strukturen, in der Vergrößerung vollzieht sich eine erste Abstraktion, sie rückt Oberflächenschönheit und innere Harmonie der Pflanzen ins Licht.

Auch Mareile Schaumburgs Bronzen stellen kaum Sichtbares, kaum Wahrgenommenes oder Unscheinbares schon durch die Größe der Arbeiten neu in den Raum. "Manchmal steckt die Möglichkeit zur großen Form im Kleinen", schreibt die Künstlerin. Sie findet die Objekte im Alltag. Aus zunächst absichtslos gesammelten Gegenständen setzen sich bestimmte Figurationen ab: Kerne, Keime, Nüsse, Kapseln, Larven. Sie werden aus ihrem Umfeld isoliert, verselbständigt, präzisiert und stilisiert. In einem anderen Material entstehen die Formen praktisch neu. Durch die Transformationsprozesse und Dimensionsverschiebungen gewinnen die plastischen Körper eine neue Qualität. Auf ein menschliches Maß vergrößert, zu näherer haptischer Erfahrung einladend, wirken sie bei aller handschmeichelnden Schönheit auch irritierend.

In ihren sanften Linienschwüngen und Rundungen wirken die kompakten Figuren äußerlich beruhigt und ausgewogen. Doch in der Oberflächenspannung spürt man die intensive innere Kraft, die aus dem Kern des Körpers nach außen drängt. Die Bildhauerin hält dadurch das Spannungsverhältnis zwischen ruhender Form und vitalem Bewegungsdrang aufrecht. Für Spannung sorgen auch die Proportionsverschiebung und das Wechselspiel zwischen gegenständlichem Bezug und der Stilisierung zu unbestimmten organoiden Formen. Manches lässt sich als anthropomorpher Körper lesen, manches rückt in der Vergrößerung als archaische Grundform, als amorphe, aufgefaltete Masse oder wie ein durchaus beunruhigend ruhendes Tier näher an den Betrachter heran als ihm vielleicht lieb ist. Zugleich haben die Plastiken auch ihren eigenen Witz, die das Vergnügen der Künstlerin bei der Erforschung und Erfindung der Form widerspiegeln.

Die Skulpturen sollen nicht nur von allen Seiten betrachtet, sie sollen in die Hand genommen, erspürt, gedreht, gewendet und unterschiedlich aufgestellt werden. So sieht man nicht nur, wie die Figur in den Raum ausgreift, man spürt auch aus unterschiedlichen Perspektiven den Druck, die Dehnung, die aus dem Inneren herauswächst. Man entwickelt das Sensorium für die Kräfte, die auch in kleinsten Kernen und Keimen wirken, man spürt dem gestalterischen Prozess nach, der das Material zugleich belebt und bändigt.

Ich will mich nun ausführlicher den Scherenschnitten von Haidelis Jacob-Kalähne zuwenden. Sie werden selbst feststellen, dass manche Parallelen aber auch durchaus Unterschiede zwischen den beiden Künstlerinnen zu finden sind. Die grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Natur denken Sie bitte im Blick auf Mareile Schaumburgs Kunst mit.

Seit Beginn ihrer Beschäftigung mit dem Scherenschnitt greift Haidelis Jacob-Kalähne vorwiegend pflanzliche Motive auf. Ihr Themenspektrum beschränkt sich allerdings nicht auf die Botanik. In jüngster Zeit beschäftigt sie sich mit den Kantaten von Bach, indem sie das Notenbild aus den Autographen aufgreift und so der Struktur, Schönheit und dem tiefen Empfindungsgehalt der Musik über die Handschrift des Komponisten nachspürt.

Die Überschaubarkeit der Mittel, die Bescheidenheit des Materials, das ohne großen räumlichen Aufwand nahezu überall in Angriff genommen werden kann - das machte den Scherenschnitt auch für Haidelis Jacob-Kalähne attraktiv. Doch es sind nicht nur diese äußeren Vorzüge des Mediums, die die Künstlerin an Schere und Papier bindet. Zum einen besteht eine besondere Affinität zwischen Empfindungsweise und Ausdrucksgehalt der einfühlsamen, eher leiseren und in Klausur operierenden Frau und der Scherenschnittpraxis. Zum anderen fand die studierte Biologin in dieser Kunstgattung die ideale formale Entsprechung für ihre Motive und Themen. Schnell löste sie sich von den Lehrmeinungen und vom Regelwerk der Gattung, etwa dem Primat der Flächigkeit und dem Verbot plastischer Effekte. Dabei gelangte sie dank ihrer besonderen ästhetischen Empfindsamkeit, kraft ihrer vielfältigen Talente und Interessen sowie durch eine Persönlichkeit, die von großer Empathie für die Mitmenschen geprägt ist, zu einem ganz individuellen Ausdruck.

Haidelis Jacob-Kalähne betitelt ihre Arbeiten teils mit den Namen der dargestellten Pflanzen, teils mit abstrakten Begriffen, die das Bildverständnis auf menschliche Befindlichkeiten, auf Existenzfragen lenken. Mit manchen Objekten befasst sie sich in größeren Werkgruppen. Hier ist eine größere Gruppe von Mohn-Darstellungen zu sehen, ein Rauschmittel in Farbe und Stoff, aber auch Symbol für die schnelle Vergänglichkeit kunstvoller Schönheit. Die prall geöffneten Blätter werden in ein bedrohliches Schwarz gestellt, die noch geschlossenen wachsen vor einem lichten Weiß der kurzen Prächtigkeit entgegen. Die Linienführung macht die Fragilität der Pflanzenform und die Flüchtigkeit des Pflanzenlebens sinnfällig, doch erst die bildnerische Inszenierung öffnet den Blick auf Wesenszüge und Chiffrengehalt.

Kaum nötig festzustellen, dass die Arbeiten Jacob-Kalähnes formal wenig gemeinsam haben mit Porträtsilhuoetten und biedermeierlichen Idyllen. Auch Mareile Schaumburg besetzt mit ihren Mischwesen aus Gegenstandsbezug, arabesker Überformung und Abstrahierung einen durchaus eigenen Platz in der Bildhauerkunst. Bei Haidelis Jacob-Kalähne findet man zwar wie im Scherenschnitt üblich auch die Pointierung der Figur durch die scharfe Kontur, die magische Tiefe der ausgeschnittenen schwarzen Fläche, den idealen Nährboden für Imagination und Projektion. Auch hier steigern der meistens gewählte schwarz-weiß-Kontrast von Figur und Grund sowie der Abdruckcharakter der Umrisslinie die Bildwirkung. Doch die Künstlerin verschränkt und verwebt die Elemente und Mittel des Mediums auf einzigartige Weise miteinander

Das Papierschneiden hat manches gemein mit skulpturaler Arbeit, mit der allmählichen, langsamen, meditativen Herauslösung der Form aus einem Stück. Die Arbeiten von Haidelis Jacob-Kalähne entfalten Raumwirkung auf unterschiedlichen Ebenen. Da ist die Staffelung des Materials in Figur und Grund, die zu reliefartiger Gestalt führt. In vielen Blättern sind die schwarzen Flächen mehrfach gebrochen und fein gegliedert. Figur und Grund lassen sich oft kaum voneinander unterscheiden. In der Korrespondenz von Negativ- und Positivform entstehen vielschichtige, räumlich gestaffelte, transparente Formen. Die fasrigen Flächen und feinen linearen Verästelungen in den Binnenzeichnungen verleihen den Gestalten stoffliche Präsenz und eine fast organische Struktur. So vereinen sich die gestalterischen Möglichkeiten und Wirkungen des Scherenschnitts mit der spezifischen Bildsprache anderer grafischer Techniken wie Holzschnitt, Radierung oder Zeichnung.

Untersuchung und Komposition, Analyse und Synthese sind in Haidelis Jacob-Kalähnes künstlerischer Technik zwei Seiten einer Medaille, sie sind die Pole, aus denen die Arbeiten ihre Spannung beziehen. Das forschende Eindringen unter die Oberfläche der Naturerscheinung vollzieht sich parallel zum allmählichen Aufbau der Komposition, ein schnittweises Schichten der Gestalt, bei dem Wesensmerkmale und Transformationen eingewoben werden. Lässt sich dieser Prozess in den Arbeiten von Mareile Schaumburg ertasten und als Volumenausdehnung räumlich erfahren, kann man ihm in den oft hoch verdichteten Scherenschnitten wie ein Fährtensucher auf der Fläche nachfahren.

Haidelis Jacob-Kalähne findet Zeichen, mit denen sie frei komponieren, die sie zu einer abstrakten Ordnung fügen kann. In der Dynamik der Kompositionen werden die Metamorphosen, die bewegten Korrespondenzen zwischen Mensch und Natur, Materie und Idee realisiert. In pflanzlichen und tierischen Organismen und Organisationen erkennt die Künstlerin Lebensprinzip, Wachstum und Kraftströme. Hier treffen sich ihre Arbeiten trotz unterschiedlicher Formlösung mit denen von Mareile Schaumburg. In den Scherenschnitten spiegeln sich Lebensraum, Lebensrhythmus und Lebensweisen der Menschen. Haidelis Jacob-Kalähne dringt in die Zellstrukturen ein, zeigt Mikroorganismen neu und symbolkräftig in kunstvoller Monumentalisierung und setzt sie in Beziehung zu architektonischen Konstrukten.

Philipp Otto Runge, ein berühmter Meister des Scherenschnitts, ging davon aus, dass alles eine Einheit bildet, dass sich alles wechselseitig bedingt, dass eines mit dem anderen zusammenhängt. Diese Einheit lässt sich auf der Zeitachse weiterschreiben: die Entwicklungsgeschichte hält die Natur zusammen und bindet die Nachgeborenen an ihre Wurzeln. Haidelis Jacob-Kalähne verweist in Arbeiten wie "Archaeopteryx" oder "Gottesanbeterin" auf die Spuren frühen Lebens, die wir bis in ihre genetische Struktur hinein entschlüsseln können.

In dem Bild "Lebensspuren" rückt die Künstlerin mit Fossil und einem strukturell verwandten Fingerabdruck denkbar weit entfernte Zeitstufen räumlich morphologisch zusammen, lässt zugleich die zeitliche Distanz spüren und in die Zukunft fragen. Das eine überdauerte Millionen Jahre, was aus uns und unserem Identitätsnachweis wird, ist offen und höchst fragwürdig. Unsere "Handschrift" haben wir mit abgebrannten Urwäldern hinterlassen, die schemenhaft im Bildhintergrund erscheinen. Aber auch durch diesen menschlichen Eingriff hindurch behauptet die Natur trotzig ihre Hervorbringungen und Spuren, Wissen, ästhetisches Empfinden und Intuition. Dieser schwer greifbare Begriff steht im Zentrum der Philosophie Henri Bergsons. Bergsons 'Intuition' meint das Erleben der fließenden, rational nicht erfassbaren Mannigfaltigkeit des Lebens in der Zusammenschau von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Durch eigenes Erleben in der "Intuition" vermag der schöpferische Mensch das Wesen in den Dingen und Erscheinungen zu erfassen. Haidelis Jacob-Kalähne hat ihren Weg intuitiven Weltverständnisses in einer höchst sensitiven und virtuosen Variante des Scherenschnitts gefunden. Mit Mareile Schaumburg hat sie hier eine Dialogpartnerin gefunden, die mit ebenso großer Intensität und Nähe zu den Formen und Prozessen in der Natur an der ausdruckssteigernden Verdichtung der bildhauerischen Mittel arbeitet. Beide bleiben ungerührt von ästhetischen Konjunkturen ihrer Bildsprache und ihren thematischen Bezugspunkten treu. Nur so lässt sich letztlich die künstlerische Persönlichkeit ausbilden, die jeder Betrachter sofort spürt.


Aus der Einführungsrede von Dr. Rainer Beßling, Syke, zur Ausstellung "Haidelis Jacob-Kalähne - Papierschnitte, Mareile Schaumburg - Bronzen

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