Neues Gen mit Mutationen identifiziert, das epileptische Enzephalopathie auslöst

15. September 2022

Für Betroffene ist es wie ein „Gewitter im Kopf“: Bei Epilepsie entladen sich schlagartig ganze Gruppen von Nervenzellen und lösen ungewollte Bewegungen, Befindungsstörungen und Bewusstseinsverlust aus. Beinahe jede zweite Epilepsie-Erkrankung beginnt bereits im Kindesalter. Forschende am Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften und der Universitätsmedizin Leipzig haben jetzt nachgewiesen, dass Mutationen in einem Gen, das den Bauplan für einen molekularen Transporter enthält, mit einer bestimmten Form der frühkindlichen epileptischen Enzephalopathie zusammenhängen.

Unter einer Epilepsie leiden in Deutschland etwa 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung. Sie ist keine einheitliche Erkrankung, alle ihre Formen teilen aber ein gemeinsames Merkmal: Betroffene erleiden einen „epileptischen Anfall“. Dabei kommt es zu einer Überaktivität von Nervenzellen. Gruppen von Nervenzellen geben gleichzeitig Signale ab und das Gleichgewicht der Botenstoffe ist gestört. Dies führt zu einer Überaktivität im Gehirn.

Die Ursachen für Epilepsie sind sehr verschieden. Sie können durch Stoffwechselstörungen oder Hirnverletzungen ausgelöst werden, aber auch durch genetische Veränderungen. „Je früher eine Epilepsie beginnt, desto wahrscheinlicher steckt eine genetische Ursache dahinter. Kindliche Epilepsien sind zu 30 bis 40 Prozent genetisch bedingt“, berichtet Sonja Wojcik, Projektgruppenleiterin in der Abteilung Molekulare Neurobiologie am MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften.

Wissenschaftler*innen haben bisher mehrere hundert unterschiedliche Gene identifiziert, bei denen Veränderungen in der zugrundeliegenden DNA-Sequenz zu bestimmten frühkindlichen Formen von Epilepsie führen. Oft gehen diese mit schweren Entwicklungsstörungen einher. Dennoch sind die Auslöser vieler Epilepsie-Erkrankungen nach wie vor ungeklärt. So ist es möglich, dass es Veränderungen in Genen gibt, die noch nicht mit einem bestimmten Krankheitsbild verknüpft sind. „Derartige Veränderungen aufzuspüren, trägt daher entscheidend zur Diagnostik und der individualisierten Therapie von Epilepsie bei“, sagt Wojcik.

In Zusammenarbeit mit Kolleg*innen am Institut für Humangenetik der Universitätsmedizin Leipzig konnten die Forschenden nun das Auftreten einer frühkindlichen epileptischen Enzephalopathie-Form einem ganz bestimmten Gen zuordnen. Dieser Ursache kamen die Forschenden auf die Spur, indem sie die DNA-Sequenz von erkrankten Kindern im Vergleich zu ihren gesunden Eltern untersuchten. Dabei entdeckten sie, dass bei den Kindern das sogenannte VGAT-Gen, wissenschaftlich als SLC32A1 bezeichnet, neu entstandene Veränderungen aufweist.

Weniger GABA-Botenstoff verfügbar 

Das VGAT-Gen enthält den Bauplan für einen molekularen Transporter im Gehirn, der den wichtigen Botenstoff GABA in die Botenstoffbehälter innerhalb einer Nervenzelle – die sogenannten synaptischen Vesikel – transportiert. Dort wird GABA aufbewahrt und ausgeschüttet, wenn ein Signal an eine benachbarte Zelle weitergeleitet werden soll. „Wir konnten nachweisen, dass die Veränderungen im VGAT-Gen vor allem dazu führen, dass der Transporter deutlich geringere Mengen an GABA in die Vesikel befördert. Entsprechend weniger davon steht dann bereit, um Signale weiterzuleiten. Das stört das Gleichgewicht der Botenstoffe und damit auch das Gleichgewicht zwischen den sogenannten hemmenden und erregenden Nervenzellen. Dies kann zur Überaktivität von Nervenzellen führen“, erklärt die Projektgruppenleiterin.

Die Erkenntnisse der Göttinger und Leipziger Forschenden tragen nicht nur zur Diagnostik der epileptischen Enzephalopathie bei. Sie liefern auch einen ersten Ansatzpunkt für mögliche zukünftige Therapieansätze dieser Erkrankung. Sie haben darüber hinaus einen ganz praktischen Nutzen für Mediziner*innen und Ärzt*innen weltweit. „Die Veränderungen im VGAT-Gen wurden in einer internationalen Datenbank hinterlegt. Dort können Genetiker prüfen, ob ihre Patientinnen und Patienten vergleichbare Auffälligkeiten im Erbgut haben und die Symptome der Erkrankung dazu passen“, erklärt Konrad Platzer vom Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Leipzig. (cr)

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